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Dienstag, 29. Dezember 2015

Vianne-Wetter

Rückblick: Sonntag, 26. Juli 2015

In Adas und Viannes Kinderzimmer stehen zwei kleine Spielzeugvögel: einer in rosa, der Ada gehört, einer in lila, der Vianne gehört. Die Vögel können nicht nur zwitschern und singen, sondern auch aufgenommene Worte wiedergeben. Ich erinnere mich noch gut, wie die Mädels damit vor einigen Wochen fröhlich gespielt haben. Ein Gedanke kommt auf. Ich drücke den Wiedergabeknopf von Adas Vogel: "Tschüß Vianne!" höre ich Ada mit verstellter Stimme sagen. Zitternd nehme ich Viannes Vogel in die Hand: "Tschüß Ada", höre ich Vianne mit piepsiger Stimme antworten. Immer und immer wieder drücke ich den Wiedergabeknopf. Ich lache, während mir heiße Tränen die Wangen runterlaufen. Einmal drücke ich zu lang - und lösche damit die Aufnahme. Wird der Wiedergabeknopf zu lang gedrückt, nimmt er neu auf... Ich bin kurz vorm Durchdrehen... Ein letzter Abschiedsgruß von Vianne... Sie war da - ganz nah. Ich muss raus an die Luft...
Wir können die Kinder zu einer gemeinsamen Fahrradtour überreden - Adas erste richtige Fahrradtour. Ich packe einen Proviant-Rucksack und wische den aufkeimenden Schmerz trotzig zur Seite. Es ist alles so anders auf einmal. Dieses Mal werden wir keinen Fahrradanhänger mit Vianne dabei haben. Es ist befremdlich. Kein Notfallset. Keine Medizintasche. Keine sorgfältige Planung. Einerseits gibt es ein Stück Freiheit zurück, an die ich mich erst gewöhnen muss. Zu sehr waren insbesondere die letzten Wochen, aber auch die letzten Monate, Jahre von einer guten Planung bestimmt, in einer Hand die Brechschüssel griffbereit, in der anderen die Schmerzmittel oder zuvor die Broviak-Pflaster und den Mundschutz, im Gepäck immer die Sorge... Ja, es ist ein Stück weit befreiend. Befreiend und befremdlich in einem. Ich wünsche mir nichts sehnlicher als Vianne dabei zu haben, aber eine gesunde Vianne ohne Einschränkung und Schmerzen. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, wie lange ich es noch ertragen hätte, Vianne immer mehr schwinden zu sehen, sie so leiden zu sehen wie in den letzten beiden Wochen vor ihrem Tod. Ich hoffe so sehr, dass es ihr jetzt gut geht in ihrem Feenreich. Ich weiß, dass es ihr gut geht.
Wir schwingen uns auf unsere Fahrräder. Die Sonne lacht vom blauen Himmel, es ist windig - herrlich windig - mit wunderschönen, sich stetig verändernden Wolkenformationen. Der Fahrtwind ist ebenso befreiend. Ich schließe kurzzeitig die Augen, um Wind und Sonne intensiver zu spüren. "Die Wolke sieht aus wie eine Babyrobbe", schreit Ada plötzlich und bleibt abrupt mit ihrem kleinen Rad stehen. "Die ist von Vianne", ruft Ada. Wir schauen alle in den Himmel. Vianne liebte Baby-Robben! Vianne liebte Wolkenbilder. Noch im letzten Urlaub, als es ihr schon nicht mehr gut ging, lag sie zusammen mit Luke auf einer Decke im Gras. Beide schauten sich Wolkenbilder an und entdeckten immer neue Wolkentiere am Himmel. Und wie sie es liebte, wenn der Wind durch ihre Haare wehte. Wind und Wolken vor wunderbar tiefblauem Himmel - lebendig, immer in Bewegung, kraftvoll, naturgewaltig: "Heute ist Vianne-Wetter!", denke ich mit einem Mal. 
 

Später machen wir ein Picknick am See. Jesse, Luke und Ada albern nach einer ausgiebigen Stärkung ausgelassen auf der Picknickdecke herum. 


Für einen Moment ist der Schmerz nicht mehr so präsent. Wir alle fühlen uns etwas leichter. Vianne-Wetter eben! Sie ist bei uns! Das erste Mal seit ihrem Tod glaube ich, dass wir ihren Verlust verkraften werden, dass wir es als Familie schaffen werden. Aus schwarz wird blau, aus Windstille wird Wind, aus Wolken etwas Wunderbares, aus Starre wird Bewegung...
Am Abend höre ich, wie Ada mit ihrem kleinen Spielzeug-Handy mit Vianne telefoniert...

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