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Freitag, 14. Dezember 2018

Wenn Schmerz sichtbar wäre..

Echtzeit! 14.12.18

Auch nach drei Jahren schickt uns der Jugendherbergsverband im Dezember noch einen Ausweis für Vianne zu - nicht deren Fehler...ich habe es nur nicht geschafft zu sagen, dass wir für Vianne nie wieder einen Ausweis benötigen werden.
Wenn Schmerz sichtbar wäre...

Ich öffne die Kühlschranktür. Im oberen Fach liegt noch immer das "Diazepam" - für Vianne - gegen Krampfanfälle - für den Notfall. Wir werden nie wieder Medikamente für sie brauchen.
Wenn Schmerz sichtbar wäre...

Ada steht im Bad mit unserem Laptop. Sie hört darüber Musik, kämmt sich ihre Haare und singt versunken zu "Lass jetzt los" (aus der Eiskönigin) mit. Sie hat dieses Lied lange nicht mehr angehört. Ada und Vianne haben damals gemeinsam zu der Filmmusik in unserem Wohnzimmer ganz befreit gesungen und getanzt. In der  Schweiz ist Vianne während der Protonentherapie mit diesem Lied in die täglichen Sedierungen geglitten. Dieses Lied wird sie nie wieder erreichen.
Wenn Schmerz sichtbar wäre...

In der Küchenschublade liegt noch ein alter Kalender aus dem Jahre 2012 - dort stehen sämtliche Geburtstage von Freunden drin und da ich zu faul bin, die Daten zu übertragen, bewahre ich diesen Kalender weiterhin auf. Beim Durchblättern finde ich noch weitere Eintragungen: eine handschriftliche Sammlung von Geschenkideen für die Weihnachtszeit. Ich lese: "A +V: Schlitten, Fingerfarbe, Knete, Buch-Adventskalender". Vianne wird nie wieder ein Geschenk auspacken, auch wenn wir weiterhin ihre Tütchen in unserem Familien-Adventskalender füllen.
Wenn Schmerz sichtbar wäre...



Ich halte am Donnerstag meinen Vortrag auf der APRO-Tagung und fühle mich schlecht vorbereitet, da die Tage zuvor so vollgestopft waren und kaum Raum zum Üben geblieben ist. Am Abend zuvor sage ich zu meiner Familie, dass ich  sicherlich die Hälfte meines Vortrages vergessen werde. Und dann flammt er auf, dieser eine Satz, den Vianne vor der Kindergarten-Weihnachtsaufführung zu einer sehr nervösen Ada gesagt hat: "Wenn du Angst hat, etwas zu vergessen, dann vergisst du es nur noch schneller." Hab also keine Angst! Sie wird nie wieder weise Worte sprechen können.
Wenn Schmerz sichtbar wäre...

Ich gehe die Mappe mit Adas Grundschulinformationen durch. Ganz unten finde ich eine Einladung zum Schulspiel, kurz bevor es in die 1. Klasse geht. Die Einladung ist auf Vianne ausgestellt. Sie wird nie eine Schule besuchen können.
Wenn Schmerz sichtbar wäre...

Vianne rutscht auf Holzeisenbahnschienen "skifahrend" durch unser Wohnzimmer, malt pfeifend bunte Bretter auf unserer Terrasse an,  schreit lauthals durchs Treppenhaus: "Ada, nicht ohne mich weiterspielen, bis ich vom Klo zurückkomme", schleckt in der Küche genüsslich die Kuchenteigschüssel aus, schleicht sich heimlich in das Zimmer von Luke, um Legobauten auseinander zu nehmen, oder zu Jesse, um die Aufmerksamkeit seiner Freunde auf sich zu ziehen, lässt sich im Schlafzimmer kichernd von uns auskitzeln und spielt inbrüstig in ihrem Kinderzimmer mit Ada mit ihren Filly-Pferdchen und Schleich-Figuren. Sie wird nie wieder in unserem Haus körperlich anwesend sein.
Wenn Schmerz sichtbar wäre...

...wäre er eine hohe, tiefschwarze, undurchdringliche Wand, eine Wand, die aufgrund ihrer faszinierend glatten, glänzenden Struktur ein Hochkletten und jegliche Hoffnung darauf im Keim ersticken würde. Trotzdem tasten meine Hände über diese nicht greifbare Struktur, auf der Suche nach Halt - immer und immer wieder abrutschend, unerbittlich tastend, suchend...

Und dann schickt uns Vianne Regenbögen. Erst letzten Montag wieder. Einen doppelten... und baut uns eine bunte Brücke über diese Wand aus Schmerz hinweg. "Bunt ist meine Lieblingsfarbe, Mama."

Auch unsere engsten Vertrauten bauen uns diese Brücken. Gerade eben, als ich von diversen "Kletterversuchen" schon ziemlich erschöpft am Fuße dieser schwarzen Wand kauerte, rief einer meiner besten Freunde an, hörte zu, stellte gute Fragen, brachte mich mit seiner ganz eigenen Art von Humor zwischen meinen Tränen zum herzhaften Lachen. Danke Frank!

Freitag, 7. Dezember 2018

Mit Vianne in Wien - eine Achterbahnfahrt der Gefühle

Echtzeit! 18. Oktober 2018
"Von Geburt an ist der Tod unser ständiger Begleiter - wir nehmen ihn anfangs nur nicht richig wahr, werden zwar hin und wieder an ihn erinnert, aber beachten ihn nicht wirklich. Bis... ja bis... er laut und deutlich an unsere Tür klopft und wir ihn nicht mehr ignorieren können - und er schließlich in unser Leben tritt... Bei uns klopfte er 2015 kräftig an. Oder vielleicht schon 2014, mit dem ersten Rezidiv? Oder ein erstes, zaghaftes Pochen in 2012 mit der Erstdiagnose...?"

Mit diesen Worten eröffneten Vianne und ich unsere Lesung in Wien vor einigen Wochen. Was für ein harter Weg dorthin... Was für eine Achterbahnfahrt der Gefühle in nur wenigen Tagen. Die Woche Urlaub, die ich im Anschluss hatte, habe ich dringend benötigt. 
Doch zurück auf Anfang. Ich könnte jetzt ein rosarotes Bild zeichnen, wie ich in heimeliger Atmoshpäre Wien entspannt entgegengeschaut habe. Bullshit. Den Dienstag - einen Tag vor meinem Abflug - habe ich noch lange gearbeitet und erst abends hektisch Dinge in meinen Koffer geschmissen, mit dem krönenden Abschluss, dass hier zuhause die Fetzen flogen und ich vor lauter Wut, Traurigkeit, Kopfchaos und Anspannung die halbe Nacht kein Auge zugetan habe. Aber, wie so häufig im Leben, ging am nächsen Morgen wieder die Sonne auf und ich machte mich, zwar hundemüde, aber doch ganz zielstrebig, auf zum  Düsseldorfer Flughafen. Infos rund um Wien und den berühmten Wiener Schick bekam ich aus erster Hand von meiner freundlichen Sitznachbarin, einer waschechten Wienerin. Nach der Landung erwischte ich sogar den richtigen Citybus, bevor ich natürlich zu lange in meiner Straßenbahn verweilte und somit den richtigen Ausstieg verpasste. Machte nix. Das Wetter war herrlich, Wien begrüßte mich mit einem babyblauen Himmel und lauschigen 18 Grad, so dass ich mich zu Fuß in Richtung Hotel aufmachte und dabei Wien bestaunte. 

Eigentlich war mir nach gemütlichem Schlendern zumute, aber aufgrund des falschen Ausstieges war ich leider etwas spät dran. Ich konnte flugs noch in meinem Hotel ("Küss die Hand") einchecken, bevor ich mich wieder auf den Weg zum vereinbarten Treffpunkt  machte.  Eine Führung durch die Kapuzinergruft stimmte auf das Tagungsthema der PSAPOH (Psychosoziale Arbeitsgemeinschaft in der Gesellschaft für pädiatrische Onkologie und Hämatologie) ein: "Wie wir dem Sterben begegnen - Was hilft und was hindert in der Begleitung krebskranker Kinder und Jugendlicher". Später ließen wir den Tag im Heurigen ausklingen, bevor ich mich - mittlerweile hundemüde - auf den Rückweg zu meinem Hotel machte - und anfangs nicht in den Schlaf fand. Meine Anspannung und Nervosität so kurz vor der Lesung nahmen nun, nachdem Ruhe einkehrte, einen gewissen Raum ein und noch im Einschlafen betete ich fast mantramäßig meine Eingangsworte hinunter, während ich hundemüde, aber innerlich aufgewühlt  im Hotelbett lag und der Schlaf sich nicht herbemühen wollte. Ich habe sogar überlegt, ob ich kurzfristig noch einen Teil der Lesung umstelle - wie krass. Irgendwann habe ich mich ziemlich trotzig (bildlich betrachtet) in den Hintern getreten und bin schließlich weggeschlummert.  
Ganz zeitig ließ ich mich am nächsten Morgen wecken, denn ich wollte ruhig in den Tag starten und noch ausreichend Raum für Jesse haben, der am Lesungstag zudem Geburtstag hatte.  Die Sonne schien mir ins Gesicht und ein hellblauer Himmel begrüßte mich. Ich war ganz bei mir - kein Vergleich zu den verworrenen, quälenden und schlafraubenden Gedankenfetzen des Vorabends. Auf meinem Spaziergang durch das frisch erwachende Wien hin zum Tagungsort, mit einem duftenden Coffee to go in der Hand, begrüßten und begleiteten mich drei sehr willkommene Gefährten: eine wohlige innere Ruhe, ein Hauch Gelassenheit und eine große Portion Ergriffenheit, so dass die restlich verbliebene Nervosität zum förderlichen Energieboost wurde. Wien erschien mir wunderbar mit Vianne im Gepäck: so rein, so strahlend, so gediegen und so lebendig. Und dann ging alles ganz schnell. Nach dem Technikcheck und Rücksprachen mit dem Vorbereitungsteam standen Vianne und ich auch schon vor dem Auditorium und nahmen das Publikum mit auf die Reise in vergangene Zeiten. Wir haben unsere Sache gut gemacht und konnten die Menschen erreichen, unsere Geschichte erzählen, zum Nachdenken und vielleicht sogar zum Umdenken anregen, sensibilisieren... 
Die restliche Tagung konnte ich entspannt als Teilnehmer genießen und schloss den Tag mit einem zünftigen Abendessen in einem typischen Wiener Wirtshaus im Kreise lieber Kollegen. An diesem Abend fand ich erleichtert in den Schlaf. Doch am nächsten Morgen sollte mein Stressniveau sprunghaft ansteigen, denn wenige Stunden später musste ich feststellen, dass mir meine Geldbörse aus der Tasche geklaut worden war. Nicht nur all mein Bargeld war futsch, auch sämtliche Ausweisdokumente, Kredit- und Krankenkassenkarten. Ich versuchte, Ruhe zu bewahren, gab eine Anzeige bei der Polizei auf, ließ alle Karten sperren, telefonierte kurz mit dem Konsulat wegen des Rückflugs am selben Abend und lieh mir etwas Bargeld, um überhaupt zum Flughafen zu kommen. Ein Kollege meinte nur: "Mensch, hast du ein gutes Krisenmanagement", aber das sah wohl nur nach außen hin so aus. Der Tag war irgendwie gelaufen, das wohlige Gefühl des Vortages komplett verpufft und meine Aufmerksamkeitsspanne bezüglich der weiteren Tagungsinhalte war deutlich reduziert. Als dann auch noch die Nachricht auf meinem Handy aufploppte, dass mein Rückflug sich verspäten würde, hätte ich am liebsten lauthals geschrien. Am Flughafen angekommen fiel dann meine Maske: ich saß im Wartebereich zwischen zahlreichen, mir fremden Menschen, während mir die Tränen hemmungslos die Wangen hinabliefen. Es war mir so egal in diesem Moment. Wen scherte es, ob ich verheult und verrotzt am Flughafen rumsaß. Zum Glück wurde dann doch noch irgendwann mein Flieger aufgerufen und gegen Mitternacht erreichte ich Düsseldorf. Ganz liebevoll wurde ich zuhause von meiner Familie  begrüßt, und nach ausgiebigen Schlaf sah die Welt auch schon wieder freundlicher aus. Die Nachricht eines sehr netten Wieners ließ mich grinsen: Er hatte mein Portemonnaie - nicht unweit des Tagungshauses - in seinem "Mistkübel" (Mülleimer) gefunden - mit sämtlichen Dokumenten und Karten. Kurz darauf schickte er es mir zu. Ich wollte ihm seine Unkosten für den Versand erstatten. Doch er wollte nicht. Seine Antwort: "Das passt schon so, das war meine gute Tat für diese Woche. Dafür ist bei Ihnen jetzt eine gute Tat für den oder die Nächste in Not offen. Liebe Grüße"
Was für eine Achterbahnfahrt der Gefühle in nur wenigen Tagen...