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Mittwoch, 28. März 2018

Trauer ist unzensiert

Echtzeit! 28. März 2018
Ich habe seit einigen Tagen Urlaub. Das heißt einerseits Durchatmen und Kraft tanken. Das bedeutet andererseits Konfrontation. Es bedeutet, dass ich mich meinem ärgsten Gegner stellen muss. Mir selbst. Eine Konfrontation mit meiner Trauer, meinen widerstreitenden Gefühlen, meiner Hoffnung und meiner Verzweiflung, meinen klaren Gedanken und meinen verwirrenden Empfindungen, meiner Stärke und Schwäche, Sehnsucht und Zufriedenheit, Liebe und Zorn, Demut und Arroganz, Anspannung und Gelassenheit, Stagnation und Aufbruch. Viel in mir schreit danach, mich auch über die freien Tage in zahlreiche Freizeitaktivitäten oder in die Arbeit zu stürzen - es gibt noch so viel, in das ich mich psychoonkologisch einarbeiten muss, was ich in meinem Job arbeitstechnisch-organisatorisch ändern möchte, welche Abläufe ich festschreiben und was ich Neues implementieren möchte, was ich schon seit Monaten in die Wege leiten wollte, aufgrund des hohen Pensums im Arbeitsalltag jedoch nicht zuwege gebracht habe. Der Kopf - so voller Ideen und Tatendrang. So viele spannende Herausforderungen: der Besuch der Hirntumortagung in Augsburg, meine Weiterbildung "Psychoonkologie", meine Referententätigkeit (Lesung) auf der PSAPOH-Tagung in Wien, die Vorbereitung der Regionaltagung 2019 und der PSAPOH-Tagung im Mai 2019 in Heidelberg... Das könnte ich doch alles schon einmal angehen. Und dann schreit die Vernunft ein lautes "Nein!" heraus und die Intuition haucht ein zaghaftes "Tu es nicht" hinterher. "Flüchte dich nicht in Aktionismus!" setzt der Verstand nach. "Pflücke den Tag - Carpe diem", fleht das Herz. Ja, haltet alle die Klappe! Ich habe es kapiert. Ich nehme mir  Exklusivzeit mit mir, bevor es in den Ski- und Snowboardurlaub geht. Versprochen. Ich genieße es ja auch: Zeichnen, Malen,

Lesen, durch die Natur streifen, Radfahren, kleine Erledigungen ganz ohne Zeitdruck, Laufen, Schreiben, Hallenbadbesuch mit Andi und den Kindern, Spielnachmittage, lässig in der Zeitschrift blättern... Die Kinder und ich genießen diese Auszeit. Kaum Termine. Ada mag sich noch nicht einmal mit ihren Freundinnen verabreden.
Alle Familienmitglieder - jeder auf seine Art und Weise - haben  in den letzten Tagen sehr intensiv getrauert und sich mit dem Verlust auseinandergesetzt. Ada möchte momentan nachts am liebsten bei Micha und mir schlafen. Wir lassen es auch oftmals zu. Nachts höre ich, wie sie mit ihren Zähnen knirscht. Innere Anspannung? 
Sie liest gerade den ersten Band von Harry Potter und taucht tief in die wunderbare Welt der Zauberkunst ein. Wir unterhalten uns intensiv über das Gelesene, schließlich bin ich auch ein großer Potter-Fan. Vor rund zwei Wochen meinte ich zu ihr, dass ich, hätte ich einen Wunsch frei, gerne die Winkelgasse besuchen würde. Sie schaute mich sehr ernst an: "Hätte ich einen Wunsch frei, Mama, würde ich Vianne und Jesse wieder hierher wünschen. Oder ich würde mir einen Zauberstab wünschen", setzte sie einen Moment später nach. Auch wissen wir beide, was  - oder besser gesagt wen - wir im Spiegel "Nerhegeb" sehen würden...
Zwei Tage später kam sie mir ganz aufgeregt entgegen gelaufen: "Ich erinnere mich wieder, Mama, ich weiß es wieder! Der Baum, in dem Vianne und ich immer geklettert sind: wir haben ihn Kristallbaum genannt." Sie schaute selig, während sie mir davon erzählte und ich musste ihr sogleich zum Kletterbaum folgen. In der nächsten Minute war sie schon oben. Ich schmunzelte bei dem Anblick meiner vor Energie und Freude strotzenden Tochter... und dann...

 ...kam der Flashback. Ohne Vorwarnung. Ich werde in das Jahr 2014 gesogen. Derselbe Ort, etwas früher im Jahr. Drei Kinder klettern kichernd über die Äste und durch die Zweige: Travis, Ada und... Vianne. Sie lächelt glücklich und verschmitzt in die Kamera mit ihren vor Kälte geröteten Wangen. Bisher ist kein Rezidiv in Sicht. Sie klettert und lebt und lacht. Dann stehe ich wieder im Hier und Jetzt. Ada hat irgendetwas zu mir gesagt und mich in die Gegenwart zurückgeholt. Es ist wieder 2018. Ich bin wie in Watte gehüllt, reagiere schleppend. Die Sehnsucht ist zu stark, ich springe zurück ins Jahr 2014. Ich stehe auf der Wiese und halte diesen fröhlichen Augenblick mit meiner Handykamera fest. Ich sehe Vianne und kann sie nicht greifen. Unbegreiflich. Ich fühle mich frei und froh. Mein Verstand macht der Sache ein Ende. Holt mich zurück in die Realität. Zurück nach 2018. Ada klettert allein im Kristallbaum. Gefühlsblitze überall um mich herum. Ein seltsame Mutation aus Liebe und Leid und Sehnsucht und Fröhlichkeit und Leben und Verlust... Mein Leben.

Vor einigen Tagen sind wir abends auf die Geburtstagsparty eines Freundes gefahren. Ada und Luke wollten lieber gemütlich zuhause bleiben, also machten Micha und ich uns zu zweit auf den Weg. Ich bat Luke, sich um Ada zu kümmern und ihr noch ein Brot zu schmieren. Seine Antwort, die so gar nicht in unserem Sinn war, kam frech und schnodderig und die Situation eskalierte in kürzester Zeit. Türen wurden zugeknallt, Gegenstände durch das Zimmer gepfeffert, Verbote ausgesprochen, messerscharfe Worte zerschnitten erbarmungslos den Raum Es steckte viel mehr dahinter als dieses dämliche Brot: Luke schrie all' seinen Schmerz  und all' seine angestaute Wut aus sich heraus  - und das war gut und reinigend. Aber es tut auch weh, den Schmerz seines Kindes zu spüren, meine eigne Machtlosigkeit zu spüren. Wie gerne würde ich ihm die beiden fehlenden Puzzlestücke wiedergeben. Sein Schmerz zerrt an mir, auch wenn ich weiß, dass das Herausbrechen der angestauten Empfindungen ein guter, ein reinigender und gesunder Prozess ist. 
Heute: Heute haben Ada und ich gemeinsam im Regen geweint. Der Tag an sich war schon streckenweise trüb. Gegen Abend zog mich alles nach draußen an die Luft (die erstaunlich gut und frisch roch), also schlug ich vor, einen kleinen Regenspaziergang zu unternehmen. Ada konnte sich schnell dafür begeistern. Wir zogen olle Regensachen und Gummistiefel an und machten uns auf den Weg. Wir sprangen leichtfüßig über Pfützen. Herrlich. Echt. Erdend. Wir trabten den Feldweg entlang, den Feldweg, den wir kurz vor der Rezidivdiagnose mit den Zwillingen entlanggehüpft waren. Im Juni 2014. Eine zauberhafte, ruhige, gar nicht 'mal traurige Stimmung senkte sich sanft auf mich, aber scheinbar auch auf Ada herab. Vianne war uns ganz nah, uns beiden. Ich kann es nicht erklären, warum ich wusste, dass Ada ebenso empfand. Wie von selbst fanden meine Finger den Weg zu meinem Handy und ich ließ "Lass jetzt los" erklingen - Viannes Lieblingslied aus der Eiskönigin. Ada fing an zu weinen, ihr Weinen steigerte sich zu einem tiefen Schluchzen, nur unterbrochen von wenigen Worten: "Wusste Vianne, dass sie sterben würde?" Ich schluckte und stille Tränen vermischten sich mit dem Regen, bevor ich, Ada fest in meinen Armen haltend, antwortete. "Ja, sie wusste es. Und sie wollte nicht sterben, das hat sie mir mehrmals gesagt." Ada trägt so schwer an dem Verlust ihrer Zwillingsschwester, und in manchen Momenten wird diese Last zu schwer und zwingt sie in die Knie. Sie kann es ganz klar äußern - und das ist sehr heilsam. Sie hat die Gabe, sich selbst sehr gut zu spüren: "Mama, das ist mir alles zu viel, ich kann das nicht mehr aushalten", bricht es aus ihr hervor. Ihre Augen schwimmen in einem Meer aus Tränen. Ich möchte meine starke Tochter beschützen, ihr den Schmerz nehmen. Nur das zählt in diesem Moment, während wir im grauen Regen unter Wolkenfetzen stehen. Wir unterhalten uns noch eine ganze Weile über Leben und Sterben, über den Tod und ob es einen Sinn ergibt. Es ist ein gutes Gespräch. Es ist ein schweres Gespräch. Es ist ein tröstendes Gespräch. Und dann nehmen wir gemeinsam Anlauf und springen völlig außer Rand und Band laut lachend zusammen in die dreckigste und tiefste und schlammigste Pfütze, mehrmals, in einem Zustand zwischen bittersüßer Melancholie und wilder Lebendigkeit. So oft, bis unsere Haut und unsere Jacken schlammverschmiert sind, das dreckige Pfützenwasser unsere Hosenbeine hinabrinnt und unsere Gummistiefel in schmierige Teiche verwandelt. Wir rutschen aus und schlittern durch den Schlamm. Zitternd und zufrieden stapfen wir nach Hause. Trauer ist unzensiert!!!