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Sonntag, 3. September 2017

Eine Reise...


Echtzeit! 26. August 2017

Zitat Ada, abends, kurz vor dem Einschlafen, nachdem ich ihr "Hanni und Nanni" vorgelesen hatte: "Ich würde auch so gerne zusammen mit meiner Schwester  ins Wasser hüpfen!"

Mir fehlt momentan die Zeit zum Schreiben, dabei ist so viel da, was herausfließen muss, was förmlich danach drängt, aufgeschrieben zu werden. Diesen Blogeintrag habe ich bereits vor knapp einer Woche begonnen, ohne ihn fertig zu bekommen... und es ist schon wieder so viel passiert, dass ich für mich gefühlt gar nicht mehr weiß, wo ich ansetzen soll... Unter der Woche, auf meinen oft über eine Stunde dauernden Autofahrten zu meiner Arbeit, fließen auch nach zwei Jahren noch so viele Tränen - meine Trauer kriegt immer dann Raum, wenn ich ungestört bin und auf langen Spaziergängen kommt meistens auch etwas Gutes dabei heraus - oder auf einer Reise...

"Keiner kommt von einer Reise so zurück, wie er weggefahren ist" (Graham Greene 1904-1991).
Ich habe viele Reisen in den letzten zwei Jahren unternommen und alle haben meinen Blick auf die Welt und mich mindestens ein klein wenig korrigiert oder zumindest geschärft. In diesem Jahr wusste ich lange nicht, wo ich in den Sommerferien eigentlich hin wollte, wo wir als Familie einen Platz finden, der uns allen gerecht wird. Für solch eine anstrengende Tour wie 2016 auf Korfu hätte ich dieses Jahr nicht die Kraft gehabt, zu müde war ich im Vorfeld. Aber ein zu ruhiger Hotelurlaub wäre auch nichts für mich. Ich bin nicht nur auf der Suche nach unbekannten Orten, sondern auch nach Menschen, die mich nach vorne bringen, nach Landstrichen, die mich inspirieren, nach Speisen und Getränken, die ich noch nie gekostet habe. Ist es der Hunger nach Leben, nachdem der Tod zweimal an unsere Tür geklopft hat? Ist es die Suche nach Antworten, die mich treibt? Oder ist es der Drang, für Vianne (und Jesse) von dieser Welt zu kosten, weil sie es nicht mehr können?  Schon früher war es für mich ein Highlight, wenn ich in der Fremde Menschen kennenlernen durfte, die ein anderes Leben führen als ich, die mich (heraus-)fordern, deren Ansichten mich nachdenklich stimmen, die mich einen kleinen Moment teilhaben lassen an ihren Erfahrungen und Gedanken - auch wenn ich nicht unbedingt ihre Ansichten teilen muss. Manchmal sind es ganz kleine begrenzte Begegnungen, manchmal ganz intensive. Auf dieser Reise wurde mein Hunger gestillt... Erst im Mai hatten wir einen Plan, wo es hingehen sollte...
Bevor wir vor rund drei Wochen in unseren Urlaub starteten, ging ich noch am selben Nachmittag zum Friedhof und verabschiedete mich von Vianne (und Jesse). Früher - "davor" - war mir dieser Ort nie wichtig erschienen und ich habe nie begriffen, wozu wir für unsere Lieben eine Grabstätte brauchen, schließlich liegt dort nur der Körper - und erinnern kann ich mich überall und jederzeit. Doch es liegt viel mehr dort: wenn ich all die liebevoll arrangierten Blumen, Briefe Bastelarbeiten; Ketten und Erinnerungsstücke von den Menschen, die sie so unglaublich lieb haben, betrachte, fühle ich mich ganz nah, ganz verbunden und bin voller Dankbarkeit, dass sie so sichtbare Spuren hinterlassen haben. Und auch für mich ist der Friedhof zu einem Ort geworden, an dam ich Persönliches ablegen kann, ohne dass es zu sehr vom Leben ablenkt.
Unsere erste Route  - sozusagen als sanfte Einstimmung auf den Urlaub und Puffer zwischen Alltag und Ferien - führte uns zum Ledrosee. Morgens um 9 kamen wir nach einer Nachtfahrt durch Starkregen und Gewitter bei strahlendem Sonnenschein an. "Was, rund 1000 km gefahren, um einen See zu entdecken, der mich an die Oestertalsperre erinnert", murrte ich unwillig, wobei der Rest der Familie in lautes Gelächter ausbrach. Zum Glück konnte ich alle überzeugen, die paar Kilometer zurück zum Gardasee zu fahren, wo wir auch ziemlich schnell einen heimeligen Zeltplatz direkt in Surfverleihnähe fanden. Kurz darauf saßen wir schon am Kieselstrand und ließen das klare Wasser, die gewaltigen grau-schimmernden Berge und unseren "Begrüßungsdrink" auf uns wirken. Angekommen!


Am Nachmittag ging ein Sturzregen auf uns nieder und das Wasser floss in Strömen mitten durch unser Zelt. Es war so egal. Wir saßen trocken und behaglich in unseren Innenzelten, fasziniert von den Wassermassen und eingehüllt in unsere Schlafsäcke und das gleichmäßige Trommeln des Regens.Während einer kurzen Regenpause futterten wir heißhungrig die leckersten Campingkocher-Nudeln in frisch-fruchtiger Tomatensauce, die es überhaupt gibt. Am nächsten Tag fuhren wir mit der Gondel auf den Monte Baldo. Das Regenradar zeigte zwar eine kleine Gewitterfront, die in der nächsten Stunde über uns hinwegziehen würde, doch davon wollten wir uns nicht abhalten lassen. Nach Olivengrappa und Käsekuchen machten wir uns mit Luke und Ada etwas zu spät an den Abstieg, während sich der Himmel bereis bedrohlich verdunkelte. Noch in Gipfelnähe prasselte der Hagel auf uns nieder, Blitze zuckten, Donner grollte. Ehrlich gesagt genoss ich die Naturgewalt! Micha war besorgt, Ada hatte Angst und die Hagelkörner taten ihr weh, Lukes Begeisterung hielt sich in Grenzen. Trotz Funktionskleidung waren wir innerhalb weniger Minuten bis auf die Unterhose durchnässt, doch eine Umkehr über die Bergkuppe zurück zum Gipfelrestaurant schien mir keine Alternative, gerade weil wir auf dem Bergrücken den Blitzen noch mehr ausgeliefert wären. Das Gewitter zog über uns hinweg, aus kleinen Rinnsalen wurden Bäche, die uns auf unserem Abstieg begleiteten. Die Kinder fanden es mittlerweile spannend. Lediglich die Kälte beeinträchtigte den Abstieg. Doch je tiefer wir kamen, desto stärker wärmte uns die hervorkommende Sonne und nach und nach trockneten unsere Kleider. Abends gab es zur Stärkung im Restaurant Haxe und Hähnchen (ich verzichtete lieber). Zum Surfen kamen wir leider nicht, da nicht genügend Wind da war. Egal. Am nächsten Morgen frühstückten wir im Schneidersitz auf unseren Isomatten, packten unseren Zeltkram zusammen und machten uns auf den Weg in die Toskana - nach Chiusdino, südlich von Sienna, einem absolut herrlichen Fleckchen Erde mit scheinbar eigener Zeitrechnung....
Die Wegbeschreibung hörte sich schon gut an: nach diversen Kurven "einfach vor der Schreinerei an der großen Mülltonne rechts einbiegen und solange geradeaus fahren, bis es nicht mehr weitergeht." Thomas Anwesen/Gehöft/kleines Paradies lag auf einem Hügel mit Blick auf das kleine Örtchen Chiusdino. Da niemand vor Ort zu sein schien, erkundeten wir das Gehöft: überall gab es etwas zu entdecken: Kunst, Keramik, altertümliche Scherben, Mosaike. 












 
Die Kinder entdeckten die selbstgebaute Seilbahn in beachtlicher Höhe, ein Trampolin, Spielgeräte. Aufgespannte Hängematten schaukelten lässig im Wind, mehrere Veranden luden zum Aufsaugen der Landschaft ein - Licht, Farben, Kornfelder, Zypressen. Dazu der Geruch frischer Pinien, gepaart mit Rosmarin. Die saftigen Weintrauben fielen uns beinahe in den Mund. Ada und Luke rannten voller Vorfreude sogleich zum Schwimmteich - schließlich hatten wir über 30 Grad. Wir folgten. Ada versuchte tapfer ihre Enttäuschung zu überwinden, aber irgendwann drängten die Tränchen hervor: der Schwimmteich war beinahe ausgetrocknet, nur ein armseliger brauner Tümpel hielt sich beharrlich. Ich hatte es schon vermutet, schließlich waren die anhaltende Dürre und die Waldbrände in diesem Jahr in der Toskana Thema in den Medien gewesen. 

Wir erkundeten einen kleinen Innenhof. Keine Menschenseele in Sicht. Nachdem ich auch telefonisch niemanden erreicht hatte, klopfte ich irgendwann verhalten an verschiedene Türen und schickte ein zaghaftes "Halloooo???" in die Räume. Und aus einem Werkraum tauchte schließlich Thomas auf - mit zerknautschtem Hemd und kurzer Arbeitshose - leicht irritiert, da er uns fälschlicherweise erst für den folgenden Tag erwartet hatte. Der gebürtige Amerikaner, stolze 72 Jahre alt, war mir auf Anhieb sympathisch. Er entschuldigte sich - zerknirscht lächelnd - für sein Versehen und die nicht fertig hergerichteten Räumlichkeiten.  Thomas, Archäologe/Ägyptologe, spricht fließend deutsch (mit einem wunderbaren amerikanischen Akzent), zudem arabisch, englisch, italienisch. Sein geschichtliches Wissen im Kontext zu den weltpolitischen Entwicklungen fasziniert mich nachhaltig. Er sagte so viele tiefgründige Dinge, sah Vernetzungen und Zusammenhänge, die ich so noch nie wahrgenommen hatte. Und er folgte meinen Gedankengängen, stellte Rückfragen und entwickelte sie weiter. Wehmütig denke ich an die Abende zurück, die wir diskutierend bei einem leckeren Wein aus seinem Weinkeller unter dem klaren Sternenhimmel saßen. Schnell durchblickte er mich und nahm wahr, dass wir als Familie eine besondere Geschichte zu erzählen haben. Bei ihm hatte ich überhaupt kein Problem damit, mich zu öffnen. Er erzählte im Gegenzug von seiner Frau, die an einem Gehirnschlag gestorben war und bedankte sich anschließend für meine Offenheit. Und Thomas hatte die besten Erkundungstipps: als erstes verriet er uns - damit Ada wieder lächelte - von dem wunderbar frischen Bach in der Nähe, dem einzigen, der momentan noch genügend Wasser führte und den nur wenige kennen, weil er so versteckt liegt. 



Wir verbrachten eine erdende, inspirierende Woche in der Toskana. Morgens machte ich Yogaübungen mit Blick auf die sanften Hüglel, bei Sonnenuntergang zeichnete ich.

 Zwischendurch erkundeten wir die Region. In Chiusdino bekamen wir von der liebenswerten, älteren Obst- und Gemüsehändlerin,  bei der wir uns mit frischen Tomaten, Eiern und Wassermelone versorgten, einen Mini-Sprachkurs in Italienisch, wohl auch weil sie merkte, dass wir lebhaft versuchten, unsere dürftig vorhandenen Italienischkenntnisse aus Respekt vor Land und Leuten anzubringen.

 In Sienna durften wir die Generalprobe des berühmten "Palio" - "dem härtesten Pferderennen der Welt" auf der Piazza del Campo erleben. Zur richtigen Zeit am richtigen Ort ergatterten wir duch Zufall die nur in begrenzter Anzahl vorhandenen und äußerst begehrten Sitzplatzkarten für die Tribüne. Aufgeregt fieberten wir mit den stolzen Reitern und Pferden mit, während die einzelnen bunten Stadtteilgruppen ihr Pferd und ihren Jockey lautstark mit Gesängen und Parolen anfeuerten. Zehn der 17 Contraden (Stadtteile) Siennas treten gegeneinander an, wer welches Pferd zugesprochen bekommt entscheidet das Los. Weit mehr als 20.000 Besucher drängten sich in dem eingezäumten Innenraum. Was für eine Mischung aus Farben, Leben, Stärke, Spannung, während die untergehende Sonne um die letzte Häuserecke verschwand. Ada, meine kleine Pferdenärrin, wusste vor Freude und Aufregung gar nicht mehr, wohin mit sich. Inmitten der Einheimischen genossen wir anschließend Wein und Campari-Soda und Pizza. Als Thomas das hörte, schüttelte er nur ungläubig den Kopf - er hatte es in den ganzen 30 Jahren, die er bereits in der Toskana lebte, noch nicht geschafft, eine Tribünenkarte zu bekommen. 
 








 
Gegenüber von Elba stürzten wir uns ins Meer, sprangen aus mehreren Metern Höhe in "unseren" Lieblingsbach, besichtigten die älteste (mittlerweile verfallene) Kirche gotischer Bauweise.


 Ada und ich flüchteten in Volterra vorzeitig aus Abscheu vor solch geballter menschlicher Perversion und Abartigkeit aus dem Museo del Tortura (Foltermuseum). 


Auf Colle Puccioli bei Thomas fühlten wir vier uns einfach nur wohl: Ada und Luke erkundeten mit weiteren  Kindern das Gelände oder streichelten die niedlichen Katzen des Gehöfts und veranstalteten Schubkarrenrennen, wir spielten Boccia und lagen stundenlang in den Liegestühlen und betrachteten Sterne und Sternschnuppen, blödelten herum und erzählten uns gegenseitig ziemlich blöde Witze. Und auch mit den Spinnen, Skorpionen und Tausendfüßlern, die, sobald wir das Licht einschalteten, blitzschnell in den Ritzen des alten Gemäuers verschwanden, arrangierten wir uns nach und nach. Wehmütig nahmen wir nach einer Woche Abschied von Colle Puccioli und machten uns auf den Weg Richtung Pinzgau/ Österreich. Solche Wassermassen, wie sie unterwegs auf den diversen Pässen auf uns niederströmten, kannten wir gar nicht mehr. Thomas hätte sich über das Wasser gefreut. Aus den Bergmassiven ergossen sich gewaltige Wasserfälle, Hagel prasselte auf unser Auto nieder, in Schrittgeschwindigkeit kämpften wir uns in unserem Auto durch Starkregen und Sturmböen. Unser Hotel lag malerisch auf 1400 Metern Höhe. Kurz vor dem Parkplatz blockierte eine Almkuh die Straße und hinderte uns am Einparken, bis sie genüßlich unseren Außenspiegel mit ihrer langen Zunge abgeschleckt hatte. Wir konnten uns vor Lachen kaum halten. Was für eine Begrüßung! Nach so viel Leben inmitten der Natur kam uns unser Hotelzimmer noch behaglicher vor, als es eh schon war. Die Kinder sprangen gleich ins Hallenbad, während wir uns erst einmal einen leckeren Cappucino gönnten. Wir hatten auch hier Glück mit dem Wetter und die Sonne begrüßte uns bei etlichen Aktivitäten: wir schwangen uns alle vier in rund 160 Meter Höhe über eine Schlucht, wobei wir vorher Wetten abgeschlossen hatten, wer von uns kneifen würde. Aber alle machten mit. Ada und Luke sind so tapfer. Ich dachte ganz intensiv an Vianne und Jesse, während ich Anlauf nahm und mich vom Boden löste. Auf dem anschließenden Downhill-Trail versuchten wir, mit den Bikes nicht in den Dreck zu fliegen (was nicht immer gelang), jodelten uns auf der Jodelwanderung frei und wanderten über malerische Pfade zu den höchsten Wasserfällen Europas und zu urigen Almen, auf denen wir jedesmal "Zirbel" kosteten (der angeblich auf jeder Alm - je nach Familienrezept - anders schmecken soll). 






Abends trugen wir spannende Tischtennis- und Billard-Turniere aus, gewannen beim Bingo und ruhten unsere müden Glieder in der Sauna aus. Ach ja, eine Massage gönnten wir uns auch noch. Wir verlängerten unseren Aufenthalt noch um einen Tag, weil es unserer Seele gut tat. Auf den hohen Gipfeln, in der Abgeschiedenheit der Natur, erinnerte ich mich leise und wehmütig an Vianne und Jesse.
"Das Leben besteht nicht in der Hauptsache aus Tatsachen und Geschehnissen. Es besteht im Wesentlichen aus dem Sturm der Gedanken, der jedem durch den Kopf tobt." (Mark Twain 1835-1910)
Am Tag unserer Rückreise strahlte die Sonne bei angenehmen 28 Grad, so dass wir uns kurzerhand entschlossen, diesen schönen Tag nicht im Auto zu verbringen. Das Zillertal (ein Staufaktor) wollten wir aber erst hinter uns lassen. Wir kamen an Kaltenbach und Hart vorbei. Bäng! Die Erinnerungen stürmten von einer Sekunde auf die andere ungefiltert, brutal und unaufhaltsam auf mich ein. Ich hatte keine Chance. Vianne hat hier Skifahren gelernt, die Skilehrer konnten es nicht fassen, dass sie ein Jahr Intensivbehandlung mit Chemo und Bestrahlung hinter sich hatte und dennoch so kraftvoll und begeisterungsfähig die Pisten hinunter düste auf ihren gerade einmal 80-cm-Skiern. Wir waren damals so erleichtert, so voller Zuversicht - glücklich - weil wir dachten, diese Scheißkrankheit in den Griff bekommen zu haben. Ich konnte all diese Momente voller Glück hier im Zillertal, durch das ich nun wieder fuhr, so sehr spüren.... gemeinsam mit der brutalen Erkenntnis, dass ich mich nie wieder so fühlen werde. Vianne ist tot! Nicht geheilt. So deutlich zu spüren, was mir, was uns genommen wurde, schnitt mir ganz tief ins Herz. Ich ließ mir nichts anmerken. Wir besprachen, welcher See sich auf unserer Heimatroute anbieten würde. Bevor mein Verstand meinem Unterbewusstsein Einhalt gebieten konnte, hörte ich mich betont lässig sagen: Hey, lasst uns doch zum Achensee fahren und dort den Nachmittag verbringen, der See ist doch super schön, liegt auf der Route, es ist nicht mehr weit dahin...." Micha und Ada stimmten zu, Luke murrte, weil er schnell nach Hause wollte.  Der Achensee: letzte Urlaubsstation mit Vianne....letzter Urlaub für Vianne....während des zweitägigen Aufenthalts zum Ende der Reise ging es ihr häufig nicht mehr gut - Schmerzattacken, furchtbares Erbrechen - zwei Wochen später war sie tot... letzter Urlaub mit Jesse... Luke und Jesse hatten sich hier - trotz Sorgen um Vianne - in einem kleinen leichten Moment bei einem "Quizduell" vom Steg in den kalten See geschubst... Dennoch zog mich der Achensee magisch an. Ich konnte mich  nicht dagegen wehren. Wir kamen an. Luke weigerte sich plötzlich, aus dem Auto auszusteigen. Erst dachten wir, dass er herumzicken würde, weil er lediglich schnell nach Hause und keinen Zwischenstopp mehr einlegen wollte. Ich meckerte, fuhr ihn barsch an, forderte ihn auf, jetzt endlich auszusteigen. Er reagierte heftig, brüllte uns an, dass er auf gar keinen Fall aussteigen werde. Schließlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Auch er litt - nur das er sich diesem Ort nicht stellen wollte. "Ist es wegen der Erinnerungen?", fragte ich ihn. Er nickte. Ich bat ihn eindringlich, mit uns zu kommen, schlug ihm vor, eine Tour um den See zu machen, die uns 2015 nicht möglich war, die wir aber noch von früher kannten (2008 waren wir schon einmal mit Jesse, gerade 8 Jahre alt und Luke, 4 Jahre alt, dort). Er bat um ein paar Minuten, kämpfte mit den Tränen. Widerwillig folgte er mir schließlich. Wir erreichten den Zugang zum Kletterpfad, es war niemand um uns herum. Mit einem Mal brach alles aus Luke heraus. Er fing an zu schreien, Tränen rannen über seine Wangen... Warum muss ich mich und die Kinder immer in diese Situation bringen??? Auch ich konnte nicht mehr, war emotional außer mir, weinte mit ihm und ließ den Schmerz in Sturzbächen herausfließen. Vor meinen Augen sah ich Vianne, wie sie sich mit ihren letzten verbliebenen Kräften zum Wasserspielplatz schleppte, sah sie sich im Wohnmobil übergeben, sah sie in einem Moment, als es ihr wieder etwas besser ging, eine riesengroße Portion Pommes mit noch mehr Majo heißhungrig futtern, sah Ada, wie sie im Campingplatz-Shop zwei "Little Ponys" - eines in gelb und eines in rosa - für sich und Vianne kaufte. Trotz all der emotionalen Bilder versuchte ich irgendwie, Luke zu helfen und ihm etwas von seinem abgrundtiefen Schmerz zu nehmen. Micha und Ada hatte ich eben noch vorschicken können, um Luke und mir Raum zu geben. Auch die aufgesetzte Sonnenbrille konnte meine Tränen nicht verbergen. Irgendwann fing Luke an zu sprechen: "Ich konnte Vianne nicht trösten. Es ging  ihr hier so schlecht. Ich habe viel zu wenig für sie getan. Ich habe es nicht gut gemacht..." Ich konnte nicht glauben, was ich da hörte. Nicht nur die Sehnsucht nach Vianne, auch Lukes eigener Schmerz legte sich wie ein Ring um mein Herz. Wie konnte ich ihn nur trösten? Plötzlich merkte ich eine ganz zarte, seichte Berührung am Arm. Ein weißer Schmetterling hatte sich während des Laufens auf meinen Arm gesetzt und verharrte dort - und sprengte die Mauer aus Schmerz und Verzweiflung. Vianne war da - genau im richtigen Moment. Ich musste lächeln und ich wusste, was zu tun war. Ich hielt Luke all die Momente vor Augen, in denen er Vianne zum Lachen gebracht hat, in denen er ihr zur Seite stand. Er war - er ist - solch ein wunderbarer, liebevoller Bruder. Ich erinnerte ihn daran, dass Vianne ihn immer so lustig und toll fand, ich erinnerte ihn daran, wie er ihr auf Mallorca bei dem steinigen Aufstieg Mut zugesprochen hat, wie oft und phantasievoll er mit ihr gespielt hat, wie er zwei Wochen vor ihrem Tod mit ihr auf einer Decke im Grünen gelegen und mit ihr gemeinsam Wolkenbilder betrachtet hat - ein ganz friedlicher, inniger Moment. So schwer diese Konfrontation am Achensee auch war: es war gut, dass sich all dieser Schmerz bei Luke  (und mir) Bahn brechen konnte. Es war eine reinigende und zugleich schmerzhafte Wanderung, die uns beide einen Schritt nach vorne gebracht hat. Wir alle waren hinterher etwas befreiter und aßen, nachdem wir noch ein belebendes Bad im eiskalten See genommen hatten, eine riesige Portion Pommes mit noch mehr Majo (für Vianne).Wir haben in diesem Sommer eine lange Reise gemacht...

Nach gestern zurückzugehen wäre ja ganz unnütz, weil ich da jemand anders war. (aus Alice im Wunderland von Lewis Carrol).  
Ja, ich habe mich verändert. Unsere Familie hat sich verändert. Aber nach vorne sehen und gehen ist auch nicht so leicht, auch wenn das die einzige Richtung ist, die uns weiterbringt...