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Samstag, 26. Mai 2018

Zeitreise

Echtzeit! 25./26.Mai 2018
"Wie geht es dir?" Diese Frage taucht immer 'mal wieder auf. Sobald sie mir gestellt wird, gehe ich in mich und veruche, eine Antwort zu formulieren. Meistens finde ich keine, die mich zufriedenstellt. Ich weiß ehrlich gesagt nicht wie es mir geht. Noch immer fühle ich mich eingehüllt in eine Seifenblase aus Surrealität. Nicht nur mein Leben fühlt sich unecht an, auch die Zeit scheint ihren Schabernack mit mir zu treiben.

Beinahe drei Jahre sind seit Viannes Tod vergangen, drei Jahre, in denen die Sonne jeden Morgen auf- und jeden Abend wieder untergeht, drei Jahre, in denen sich das Leben weiterdreht, ohne jemals wieder diesen Drive zu erlangen, den es früher, vor Viannes Tod, für mich hatte. Drei Jahre? Genauer 2 Jahre und 10 Monate. Es tut noch ebenso weh wie am ersten Tag, nur weiß ich mittlerweile ein klein wenig besser mit dem Schmerz umzugehen, mit diesem ach so präsentem, mir bestens vertrautem Wegbegleiter. Viannes Kichern: so echt und klar, als hätte ich es erst gestern gehört. Nein, es muss mindestens 2 Jahre und 10 Monate alt sein. Ist es wirklich schon so lange her, dass ich ihr Kichern in der Realität gehört habe? Ja, sagt der Verstand. Das Rad der Zeit hat sich einfach weitergedreht - ohne sie... und doch mit ihr. Mit meinen Erinnerungen und Empfindungen an sie, ohne neue gemeinsame Erfahrungen, ohne irdische Erlebnisse für sie. Sie wäre jetzt neun Jahre alt. Ich sehe Ada als Neunjährige. Ich sehe Vianne als Sechsjährige. Auch sie wäre jetzt neun Jahre alt, ebenso alt wie ihre Zwillingsschwester, lediglich sieben Minuten jünger. Doch es gibt kein Bild von Vianne als Neunjährige. Nur das Bild einer Sechsjährigen, die jetzt rein theroretisch Neun wäre, wenn dieser Scheiß-Tumor nicht ihr Leben zerstört hätte.

Werde ich mein Leben lang ihr Lebensalter in unsere Zeitrechnung übertragen? "Sie wäre jetzt 15 Jahre... 24 Jahre... 32 Jahre alt..."  Die Bilder werden immer schlechter übereinanderpassen. Sie wird nie älter werden als sechs Jahre. Nur Phantasiebilder. Wie würde sie aussehen? Würde sie Ada ähneln?
Ada, Luke, Micha und ich tragen mittlerweile viele neue und auch nachhaltige Eindrücke aus Urlaubsregionen in uns, die Vianne nie kennengelernt hat: Korfu... Zauchensee...Monte Baldo und der Gardasee...Etsch-Radweg... Vils, Verona und Venedig... das Veluwemeer...Chusdino, Sienna und weite Landstriche der Toskana...Wald im Pinzgau... Mailand...Steibis und das Blaue Haus in Oberstaufen... Grächen in der Schweiz, demnächst Irland und die französische Atlantikküste ...

... und dann sind da die Regionen, die wir in den letzten 2 Jahren und 10 Monaten aufgesucht haben, weil wir Vianne dort gewiss antreffen: Antonis Haus auf Mallorca und der Torrent de Pareis... der Achensee... unser geliebter Weilandtshof an der Ostsee, Heiligenhafen und die Milchbar in Dahme. Lübeck und Travemünde...Cuxhaven... Sylt...der Hopfensee, Füssen und der Tegelberg... Diese Konfrontationen mit der Vergangenheit sind schmerzhaft und heilsam in einem. Wir sind erst vor wenigen Tagen zurückgekehrt aus dem Allgäu. Micha und ich haben die Herausforderung einer dreitägigen Hüttentour angenommen. 
Auf dem Weg nach Füssen vor einer Woche führte uns unser Navi frühzeitig von der Autobahn ab, um einen Stau zu umfahren, und brachte uns direkt zur Uferstraße des Hopfensees. Wie ein Wasserfall prasselten unzählige Gefühle auf mich ein. Überall Vianne...
Rückblick Juni 2015.  Sie liegt am Hofensee neben mir auf der Picknickdecke, wie ein kleines, zierliches, zerbrechliches Vögelchen, noch geschwächt und blass und schmerzgepeinigt von der eben erst abklingenden, schlimmen Kopfschmerzattacke und dem schrecklichen Würgen, während ihre Geschwister auf dem Hopfensee gemeinsam Kanu fahren. Und doch umspielt ein kleines Lächeln ihre Mundwinkel. Es ist ihr letzter Urlaub...und sie spürt es...
Wir fahren mit unserem Auto weiter durch das Füssener Zentrum und passieren den Springbrunnen, aus dessen Stelen normalerweise Wasser in die Höhe sprudelt. An diesem Tag ist der Brunnen stillgelegt.
Rückblick: Vianne sitzt im Fahrradanhänger, sie genießt die Tour und lacht und jauchzt fröhlich, als wir zwischen den Stelen mit unseren Fahrrädern hindurchradeln, um uns eine kalte Dusche abzuholen. Sie weist die jammernde Ada zurecht, sie möge sich wegen der paar Wassertropfen nicht so anstellen. Ich muss grinsen.
Schließlich kommen wir an der Talstation der Tegelbergbahn an, schlüpfen in unsere Wanderstiefel und schnüren unsere Rucksäcke.
Rückblick: Direkt vor dem Eingang der Gondelstation parken wir unsere Fahrräder. Den Anhänger, umfunktioniert zum Kinderwagen, nehmen wir mit in die Gondel, damit wir Vianne Richtung Gipfelkreuz schieben können. Sie genießt die Gondelfahrt. Es ist ein guter Tag, ein trotz aller Ängste und Sorgen fröhlicher, belebender Tag - ohne Kopfschmerzen, ohne Erbrechen. Wir sind so dankbar für diese Familienzeit, diese kleine Verschnaufpause auf rund 2000 Meter Höhe, inmitten all der prächtigen Natur , inmitten der vier Kinder. Wir sind dem Himmel sehr nahe...
Es ist der letzte Tag unseres dreitägigen Wanderurlaubs. Am Nachmittag zuvor sind wir wieder am Tegelberghaus angekommen und verbringen eine schnarchig-urig-gemütliche Nacht im Bettenlager. Bereits um sechs Uhr in der Früh - die Sonne kitzelt mich zum Aufwachen an der Nasenspitze - schlüpfe ich schnell in meine Treckinghose und mache mich auf den Aufstieg Richtung Gipfelkreuz. Die Berge gehören nur mir in diesem Moment, die Natur und ich sind eins, die Sonne lacht vom zartblauem Morgenhimmel. 

 
Ich komme an "unseren" Aussichtspunkt" und breche in Tränen aus. Der Verlust ist hier besonders offensichtlich, der Fehler in diesem Panoramabild nicht zu übersehen. Vianne und Jesse sitzen heute nicht mehr auf den vor mir liegenden Felsblöcken. Lautstark lachend und zugleich tief schluchzend schreie ich der Bergwelt trotzig und voller Stolz auf meine wunderbare Tochter: "Es schneit, es schneit, der Winter ist da!" entgegen. Danach ritze ich akribisch ihre Namen in die Felsen. 
 

 Rückblick: Schweißgebadet schiebt Micha, unterstützt von Jesse, den Fahrradanhänger mit Vianne den schmalen, steinigen, holprigen Pfad hinauf, dem Gipfelkreuz immer näher kommend. Trotz der Anstrengung sind alle vergnügt, fast ein wenig befreit. Bis zum Gipfelkreuz schaffen wir es nicht mit dem Anhänger, das ist uns klar, denn die letzte Strecke ist nur kletternd zu bewältigen. Wir finden einen wunderschönen, einsamen Aussichtpunkt. Die dort liegenden Felsblöcke laden uns zum Verweilen ein und wir verspeisen genüßlich ein paar mitgebrachte Leckereien. Vianne schaut so friedlich-versunken auf die uns umgebenden Gipfel ferner Berge, tief in sich ruhend und geerdet. Mein Herz schwappt beinahe über vor Liebe und Ergriffenheit. Sie trägt ihr rosa Sonnenhütchen und eine dunkelblau gemusterte Blümchenbluse. Sie kuschelt sich auf Jesses Schoß, der sie fürsorglich lächelnd, wohlig schützend im Arm hält. Schließlich bedenkt sie uns mit ihrem wunderbaren Vianne-Grinsen, schaut uns herausfordernd an, wirft ihren kleinen Kopf in den Nacken und schreit, den Blick gen Himmel gerichtet: "Es schneit, es schneit, der Winter ist da!"


Auf unserem Abstieg zurück zur Talstation überqueren wir den idyllischen Gebirgsbach, in dem wir uns damals während unserer Fahrradtour abgekühlt hatten. Heute steht hier keine Vianne lachend im Flussbett, während ihre Geschwister einen Damm bauen oder um die nächste Flussbiegung lugen - keine Füßchen, die von dem kalten Gebirgswasser umspült werden. Scheiße! Ich bin so grausam mir selbst gegenüber, denn kurz darauf landen wir in der kleinen Alpe, in der wir uns vor 2 Jahren und 10 Monaten bei Schmalzbroten, Gulaschsuppe und eisgekühlten Getränken gestärkt haben. Die Alpe hat für uns ihren Reiz verloren...
Es ist fast drei Jahre her. Es ist erst eben passiert. Die Zeit. Sie verschwimmt. Die Vergangenheit holt die Gegenwart ein und gestaltet meine Zukunft. Doch ich habe Einfluss und gestalte mit. Und deshalb wandern wir in der Gegenwart auch abseits der Erinnerungen, gehen neue, herausfordernde, uns mal wieder beinahe an die eigene Grenze bringende steinige Wege. 
Nachdem wir die Nacht hindurch Richtung Allgäu gefahren waren, kauften wir uns kurz vorm Ziel noch etwas Wegzehrung und standen schließlich um 9:44 Uhr am Pfingstsamstag aufbruchbereit auf dem Tegelberg. Von der Bergstation aus ging unsere Tour Richtung Kenzenhütte. Laut Wanderinfo ein schwerer, rund fünfeinhalb stündiger Marsch über den Brandnerfleck und Ahornsattel auf den Niederstraußenbergsattel und weiter über den Gabelschrofensattel bis zum Kenzensattel und von dort wieder hoch bis zur Kenzenhütte, wo wir uns im Vorfeld Betten reserviert hatten. Bei strahlendem Sonnenschein ging es los. 




Wir wussten, dass das Wetter am Nachmittag in Regen und in örtliche Gewitter übergehen sollte, aber wir hatten ja ausreichend Zeit - dachten wir. Um 12 Uhr zogen die ersten dichten Nebelschwaden auf, aus leichtem Sprühregen - wir kletterten gerade die Felsen hoch - wurde kurz darauf ein stetiger Dauerregen, der sich zu einem Wolkenbruch steigerte und die folgenden vier Stunden auf uns niederprasselte. Meine Treckinghose hat sich die ersten beiden Stunden erfolgreich gegen den Wassereinbruch gewehrt, doch in den letzten beiden Stunden lief mir das Regenwasser die Beine hinab.


 Auf rund 2000 Meter Höhe erwischte uns das Gewitter. Blitz, 21, 22 und ein ohrenbetäubender Knall, der einen ohne groß nachzudenken in die Hocke gehen ließ. "Nun ja", dachte ich mir, "die Gämsen werden auch nicht alle naselang von einem Blitz herniedergestreckt", also schritt ich weiter wacker voran. Das Gipfelkreuz war zum Greifen nah. Doch die Vernunft siegte. Wir sahen in der Ferne eine dreiköpfige Truppe, die sich vom Grat entfernte und einen Trampelpfad nutzte, der etwas weiter ins Tal führte. Sie wollten ebenfalls zur Kenzenhütte und folgten einem Weg abseits der Gipfel. Wir folgten erst einmal ... und kamen dadurch blöderweise von unserer geplanten Route ab. Ich gebe es zu: wir hatten uns die Wegstrecke  (ohne Alternativroute) sowie den entsprechenden Kartenausschnitt  lediglich aufs Handy geladen, und das gab im Dauerregen seinen Geist auf. Empfang hatten wir sowieso die ganze Zeit keinen. Gemeinsam setzten wir unseren Weg fort. An der nächsten Weggabelung fanden wir Hinweisschilder mit zwei möglichen Routen zur Kenzenhütte. Die drei Wanderer beratschlagten noch, wir entschieden uns für die Tour durch das Fensterl. Aber der Weg war durch ein großes Schneefeld blockiert, welches das Halteseil unter sich begrub. Das wir keine eigenen Seilsysteme dabei hatten und der Hang unter uns steil abfiel, entschieden wir uns gegen diese Route. Meinem Bauchgefühl vertraue ich in diesem Fall sehr gerne. Also zurück zur Gabelung. Route 2 ging über die Hochplatte auf über 2000 Meter, blöd war nur, dass das Gewitter noch immer tobte. Die Wandergruppe - Frank, Markus und Agathie entdeckten auf ihrer Karte eine dritte Route weiter südlich, die nicht über die hohen Gipfel führte. Also nahmen wir diese. Wir schritten einiges schneller voran als die drei anderen und waren bald außer Sichtweite. Es war schwer, die Wegmarkierungen zu finden, denn auch auf dieser Route blockierten abschnittsweise einige Schneebretter den Weg und die Wanderzeichen. Wir verliefen uns blöderweise noch ein Mal und mussten nach 15minütiger Kraxelei wieder umkehren, aber nach siebenstündiger Wanderzeit kamen wir schließlich pitschnass, durchgefroren aber sehr zufrieden auf der Kenzenhütte an und wärmten uns erst mal innerlich mit einem Haselnussschnaps. Die Hütte war urgemütlich. Von unserer Ausrüstung waren nur noch eine Hose und ein Oberteil trockengeblieben, aber das reichte ja. Den Rest trockneten wir in der hauseignen Trockenkammer - Sauna mit Wandersocken-Aroma. Nach einer heißen Dusche - die Duschmarke für Warmwasser wurde von mir bis zur allerletzten Sekunde ausgenutzt - stärkten wir uns bei einem deftigen Abendessen und fielen noch vor 22 Uhr in unsere Betten. 



Am nächsten Tag verliefen wir uns natürlich auch wieder und suchten querfeldein, durch ein ausgetrocknetes Bachbett und tapfer über einen steilen Berghand kletternd unseren Weg zurück zur Tegelberghütte, wo wir im Bettenlager übernachteten. Dieses Mal waren wir dem Regenschauer zuvorgekommen.





Später am Abend wurden wir mit einem traumhaften Ausblick und weichen Abendlicht bedacht.



und am letzten Wandertag strahlte wir mit der Sonne gemeinsam um die Wette.