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Mittwoch, 20. Dezember 2017

Zeit der Stille

Echtzeit! 20.12.2017 
Zitat Ada: "Vianne hat mir auch das Pfeifen beigebracht - wir waren ein klasse Team." 12.08.2015
Zweieinhalb Jahre ohne sie, ohne dieses kleine, kritische, kichernde blondgelockte und zeitweilig kahle Mädchen an meiner Seite, das die Regenwürmer aus jeder Pfütze gerettet und sich selbst kunterbunt angemalt und dabei mit der Sonne um die Wette gestrahlt hat. 

Dieses Mädchen, das sich - behängt mit unendlich vielen Ketten, Taschen, Glitzerdingen - auf die Reise gemacht hat, die Welt zu erkunden. Eine kleine Persönlichkeit schon in so jungen Jahren, die mit einer Mischung aus Charme und Schüchternheit, Trotz und Beharrlichkeit die Menschen für sich eingenommen hat.

 Mit der Salatschüssel auf dem Kopf hat sie sich in Lukes Zimmer geschlichen und seine Lego-Bauten auseinandergenommen, was auf der einen Seite zu lautem Gelächter, auf der anderen Seite zu lautstarker Empörung geführt hat. Kein Kletterturm war ihr zu hoch (und wenn anfangs doch, dann hat sie einfach Ada vorgeschickt), kein Gewässer zu tief. Die Herausforderung ihres ersten Frisörbesuchs hat sie tapfer angenommen (unsere Jungs sind vor der Schere in jungen Jahren schreiend davongelaufen), kein Nikolaus konnte sie zurückweichen lassen. Sie hat sogar noch ihre Schwester angeschwärzt, die kleine Ziege. Sie hat die Wunder in der Natur gesehen ("Die Welt ist voll von Sachen, und es ist wirklich wichtig, dass sie jemand findet." Astrid Lindgren) und hat den Duft und die Schönheit von Ingas Blumen im Garten eingesogen.



War dieses Leben mit Vianne nur eine Illusion? Hat jemand anderes dieses Leben mit meiner wunderbaren Tochter gelebt? 
Ich kann nicht glauben, dass ich dieses helle, wertvolle Leben voller Freude und Phantasie, Einhörner, chaotischen Haushaltszuständen, ausufernden (und erschöpfenden) Ins-Bett-geh-Ritualen, wackelnden Popo-Tänzen, Kartoffel-Ernte-Erkundungstouren und Pfützenhüpfen gelebt habe... ohne diese innere Kälte in mir... ohne diesen grauen Schleier, der sich zwar behutsam, aber unaufhaltsam auf jeden noch so schönen, leuchtenden, kuglig-lachenden, herzerwärmenden Moment, den es auch heute noch gibt, herabsenkt. Ich habe gekämpft, gegen das Grau angekämpft, habe mir jede Taschenlampe und jeden schimmernden Stern zuhilfe genommen, um durch diesen zähen Mantel der Trauer hindurchzustrahlen. Ich habe mich in meinen Beruf hineingelebt, habe mir den Schmerz aus Kopf und Körper gerannt und gerammt, habe Vianne in der Natur gefunden und probiert, diese Momente der Herzenswärme in meinen Akku einzuspeisen, habe meine Gefühle in Worte fließen lassen, mir professionelle Hilfe geholt, mich in Extremsituationen begeben, wenn ich mich nicht mehr fühlen, mich nicht mehr wahrnehmen konnte, habe reinigende Tränen allein und im Beisein vertrauter Menschen vergossen, habe den Alltag angenommen und sogar daran teilgenommen, habe versucht, den Blickwinkel zu wandeln und die Welt aus einem Kopfstand heraus zu betrachten...habe mich beim Yoga und in der Meditation in Gelassenheit geübt und habe mich verbeugt vor allem, was lebt und liebt... mit dem einen Ziel: zu leben. Richtig zu leben. Nicht nur zu funktionieren... Vergebens! Warum nur dieser Rückschritt - jetzt, nach zweieinhalb Jahren -  wo ich doch schon so weit gekommen war???
Jetzt drohen mich Wut und Hoffnungslosigkeit und Dunkelheit zu verschlingen. Ich bin so müde...müde...müde. Mein Gegner, meine Trauer, letztendlich doch zu stark? Sie droht mich aufzufressen. Mein Körper zeigt erste Reaktionen. Kann man an gebrochenem Herzen sterben? Ich glaube schon... Ich werde mein Leben zu Ende leben, das ist ganz klar, aber ich befürchte, ich werde mein Ziel nicht erreichen, ein Leben voller purer, praller Lebendigkeit zu leben. 

Verpufft ist diese Lebendigkeit, die solch einen großen Teil meiner Persönlichkeit ausgemacht hat. Ich merke, wie sich Bitterkeit und Resignation um mein angeschlagenes Herz schlingen. "Du hast verloren verloren verloren", tönt es höhnisch. "Du hast auf ganzer Strecke verloren, hähä: Vianne, Jesse, Hoffnung, Mut, Liebe, Vertrauen, Energie, Führerschein (har har), Demut, Achtsamkeit, Herzenswärme." Zu viele Dinge überfordern mich aktuell. Bald ist Weihnachten... Die Zeit der Stille... Vielleicht brauche ich diese Stille, um mich neu zu finden, neu zu ergründen. Vielleicht sollte ich nicht mehr gegen die Trauer ankämpfen, sondern sie annehmen. Es fällt mir nur so bleischwer, mein jetziges Leben anzunehmen... Was ich brauche ist ein Wunder, denn ich bin nicht so stark wie meine kleine wunderbare Tochter Vianne, auch wenn ich auf eine Art und Weise mutig bin - in WehMUT steckt schließlich Mut.

 "Ich möchte sie doch nur noch einmal sie sehen, nur noch einmal mit ihr sprechen, Mama, mehr will ich doch gar nicht...", hat Ada erst letztens wieder mit tränenschimmernden Augen zu mir gesagt. Sie verlangt noch nicht einmal, dass du ständig wieder an ihrer Seite ruhst. Nur noch einmal sehen, umarmen, berühren, einatmen, genießen und deine Wärme spüren.

Was wir brauchen ist ein Wunder...
Wir haben seit kurzem ein wirklich wunderschönes, geschichtsträchtiges Klavier (Danke Jan und Kathrin!). Jedes Familienmitglied hat es für sich entdeckt - sogar Vita (unsere Katze) habe ich schon einmal klammheimlich über die Tasten huschen hören, und jedem bringt es Entlastung. Luke spielt schon so toll und ich merke, wie er sich beim Klavierspiel innerlich entspannt. Eine Zeit der (inneren) Stille ist vonnöten...

PS: Lesung in Magdeburg - mit dir, meine kleine Kämpferin. Du warst dabei und wir haben ihnen deine/unsere Geschichte erzählt... Es ist schön, dass die Menschen von dir hören möchten. Danke Magdeburg!



Freitag, 3. November 2017

Ab wann....?

Echtzeit! 03. November 2017

Es ist nach Mitternacht - ich komme gerade vom Tanztraining mit meinen Freunden, die mir wie immer so viel Leichtigkeit und Bodenhaftung mit auf den Weg geben. Sie tun so gut und ertragen mich pur. Auch nach über zwei Jahren ist mein Herz noch immer so schwer, dass mich neben all meiner Lebendigkeit unverhofft solch eine Schwermut überfällt und mich hin und wieder zu überfordern scheint. Mein rechtes Augelid zuckt seit ein paar Wochen... Ich habe keine Ahnung warum. Posttraumatische Belastungsreaktion?? Stress??? Langzeitfolgen??? Keine Ahnung. Ist mir irgendwie auch scheißegal. Bin ich trauriger als vor einem Jahr? Als vor zwei Jahren? Diese Frage stelle ich mir in letzter Zeit immer häufiger. Ich bin nicht trauriger - nur müder - streckenweise, denn es gibt immer noch so viele Dinge, die mich kitzeln, herausfordern, ergriffen machen. Also ist diese partielle Müdigkeit noch nicht besorgniserregend. Noch immer bin ich auf der Suche. Wenn ich nur wüsste, wonach? So weit hat sich mir mein Unterbewusstsein noch nicht offenbart. Ich weiß nur, dass diese Suche kräftezehrend und - weil eben nicht zielgerichtet - unbefriedigend ist. Wonach suche ich??? Nach der Sinnhaftigkeit? Verläuft unser Leben in vorbestimmten Bahnen? Habe ich Einfluss? Gibt es eine Welt hinter unserer Welt? Is it right or is it wrong...? Was ist richtig? Was ist falsch? Wo verlaufen die Grenzen ...der Ehtik...des Gewissens... wie ändern sich Verhaltensweisen im Kontext zur jeweiligen Epoche. Ich lese mich in so viele Fachgebiete ein, probiere Zusammenhänge zu erkennen, zu begreifen, so oft zerrissen zwischen Hoffnung und Niedergeschlagenheit. Manche Lebenswelten sind mir so fremd geworden, insbesondere diejenigen, die eine subjektive Sicherheit fordern, die genaue Zeitabläufe und Planungen benötigen, um ein Wohlgefühl zu haben. Es - gibt - keine - Sicherheit, meine Lieben. Sicherheit ist subjektiv und findet einzig und allein in euren Köpfen statt. Und doch seit ihr, die ihr so empfindet, in einer beneidenswert komfortablen Situation... 
In der ersten Herbstferienwoche bin ich spontan mit Ada nach Sylt gereist dank einer unverhofften Einladung einer lieben Freundin. Eigentlich war geplant, die Ferien - ich hatte eine Woche Urlaub - zuhause zu verbringen. Luke freute sich wahrhaftig darauf, einmal nicht wegzufahren. Welch Klage auf hohem Niveau. "Oh nein, nicht schon wieder ein Urlaub!" Ich folgte seinem Wunsch und machte mich also nur mit Ada auf den Weg. Ich liebe spontane Aktionen und bin meistens dafür zu haben, deshalb hielten mich auch weder der lange Freitagabend noch der bis in die frühen Morgenstunden durchfeierte  Samstag davon ab, am nächsten Morgen ein paar Sachen in die Koffer zu werfen und gen Norden zu reisen. Sylt! Welch Erinnerungen hängen an dieser Insel. 2013 waren wir dort - zu sechst - zur Familienreha. Wie frei und unbeschwert wir waren in dem Glauben, das Ependymom besiegt zu haben. 2015 war ich mit meiner Uli dort, die so stark an meiner Seite stand. Sylt als Flucht nach Jesses Tod. Sylt als Seelenbalsam mit seinen Farben und Naturgewalten. Sylt als Abstandhalter. 2017: Sylt als Luftblase. Zum Durchatmen. Raumgebend für Gedankengänge. Ada ist zum Glück eine unkomplizierte, wohltuende und experimentierfreudige Reisegefährtin, ausgestattet mit einer wunderbaren Sensibilität und purer Lebensfreude. Wir waren mit Kathrin, Lilli und ihren Brüdern auf der Insel. Lilli war Viannes Freundin (und wurde später auch zu Adas Freundin), wir hatten uns in der Kinderklinik kennengelernt. Als wir 2013 zur Reha auf Sylt waren, verbrachten Kathrin und Lilli parallel ihren Urlaub auf der Insel und wir trafen uns, aßen gemeinsam Crepes, tobten über den Strand und die Spielplätze, besetzten ein Kinderkarussell, kicherten, lachten, beobachteten die Fische im Meeresaquarium. 2017: die gleiche Konstellation, aber keine kichernde Vianne unter uns -  welch Gefühlssturm, welch Schmerz, welche Sehnsucht. Ab wann darf man nicht mehr traurig sein??? Ab wann geht dein Umfeld davon aus, dass du dich mit deiner neuen Lebenssituation arrangiert hast?? Keine Ahnung. Ich werde für den Rest meines Lebens diese abgrundtiefe Traurigkeit empfinden.  Ich sehe Sylt und liebe die Insel. Ich sehe Sylt und trauere. Ich sehe Sylt und fühle mich lebendig. Ich sehe Sylt und vergehe vor Sehnsucht. Es gibt so viele Farbabstufungen in meinem Leben, auch wenn ein Teil immer schwarz und abgestorben bleiben wird.
Am vorletzten Tag habe ich mit Ada einen langen Strandspaziergang unternommen. Die Wellen umspielten unsere Gummistiefel. Während wir so daherschlenderten, hielt Ada plötzlich inne. Eine Welle hatte ihr eine wunderschöne Muschel vor die Füße gespült. Einfach so. Außergewöhnlich. Anders. Scheinbar aus dem Nichts kommend. Ada schaute mich mit leuchtenden Augen an. "Mama, die hat mir Vianne geschenkt... und dieser kleine Schlingel hat auch immer die Wellen in meine Gummistiefel schwappen lassen."








Samstag, 14. Oktober 2017

Spurensuche

Wie kann ich gleichzeitig so voller Liebe, Dankbarkeit, Ergriffenheit und andererseits so voller Wehmut sein...? Das Leben ist skuril. So viele Lebenswelten laufen parallel ab und überfordern mich im unmittelbaren Vergleich. Mein letzter Eintrag war im September - Hilfe - die Uhr tickt, und ich komme nicht hinterher. Einmal mehr müsste mein Tag gefühlte 10 Stunden mehr haben, um all' meine Anliegen und Bedürfnisse zu befriedigen, um all' das Erlebte zu "Papier" zu bringen (ok Leute, es ist ein Internet-Blog, aber meine Liebe zu raschelnden, duftenden Papierseiten und zum Schmökern in handfesten Büchern ist nach wie vor ausgeprägt - ich LIEBE mein Bücherregal, weiß aber auch die Vorzüge eines Internet-Blogs zu schätzen). 
Nach dem schwierigen Gang um den Achensee kehrte keine Ruhe ein. Das Nachhausekommen ist nach wie vor schwer. Noch schwerer wurde es nach unseren diesjährigen Sommerferien, da Ada die Bitte äußerte, Viannes "Erinnerungskoffer" zu erkunden. Was für ein schöner Wunsch. Was für ein schmerzhafter und zugleich konfrontativer Wunsch..... Gemeinsam nahmen wir jeden liebevoll gestalteten Wegbegleiter aus Viannes Koffer in die Hand. Ich war so ergriffen, glücklich und traurig in einem. Gefühlte 10.000 Mal fragte ich Ada, ob mit ihr alles ok sei. Sie herzte die Kuscheltiere, schaute fasziniert auf den Feenstaub und die Holzengel - hin- und hergerissen zwischen dem eigenen kindlichen Bedürfnis, diese Sachen für sich in Anspruch zu nehmen und ihrem großen Herzen, diese Dinge für Vianne zu "verwalten". Ich liebe sie so sehr! Ada ist Ada! Pur!









 Irgendwann flossen meine Tränen und ich spürte, dass auch Ada wankte. Sie entschwand im Garten und es war so greifbar, dass die Erinnerungsreise ihr Herzchen überforderte. Am nächsten Tag kroch der Schmerz aus ihr heraus - pur und brachial. Sie hatte Matheaufgaben auf. "Das ist freiwillig!", schnauzte sie mich mittags an. "Die muss ich nicht machen!", sprach sie und schaute trotzig aus dem Fenster. "Nun ja, Madame, du bist nicht in der komfortablen Situation, auf etwas Wiederholungsarbeit zu verzichten", rief ich ihr ins Gedächtnis. Ich bot ihr einen Kompromiss an: die Hälfte der Aufgaben oder einen alternativen Arbeitszettel von mir. Schnaufend setzte sie sich an den Küchentisch und  begann, die Aufgaben zu bearbeiten, bis sie mir schließlich alles entgegenwarf und sich stampfend in ihr Kinderzimmer verkroch. Ich war so wütend, dass ich genau wusste: wenn ich ihr jetzt folge, eskaliert die Situation. Also verzog ich mich zum Durchatmen auf die Terrasse. Ihr Kinderzimmer liegt direkt darüber. Das Fenster stand auf Kipp. Ich konnte hören, wie sie Gegenstände durch ihr Zimmer pfefferte und herzergreifend weinte. In diesem Moment wurde mir klar, dass nicht die Matheaufgaben hinter ihrem Schmerz steckten. Die brachten ihre Seele lediglich zum Überlaufen. Sie wusste nicht, dass ich sie hören konnte. Sie schrie. Sie brüllte. Komplett außer sich. Gefangen in ihrer Sehnsucht. Ich hörte sie brüllen: "Vianne!!! Komm sofort zurück. Ich schaffe es nicht ohne dich. Es ist zu viel. Viiiaaannne! KOMM WIEDER!" Adas Schmerz ist mein Schmerz.... Ich gönnte mir zehn Minuten Tränen.... dann ging ich zu ihr ins Zimmer. Sie lag auf ihrem Bett, hatte Viannes Foto aus dem Bilderrahmen genommen und hielt es ganz eng an ihre Brust gepresst, um sich herum etliche gesammelte Erinnerungsstücke von Vianne drapiert. Das Zimmer ein einziges Chaos - überall verteilt ihre Lieblingssachen, die sie voller Wut und Schmerz durch den gesamten Raum gepfeffert hatte. Ich wiegte sie minutenlang in meinen Armen... Ihr Schmerz ist mein Schmerz.... Schluchzend erzählte sie mir, dass sie ihr gesamtes Taschengeld "und noch mehr" hergeben würde, wenn Vianne nur wiederkäme... auf der einen Seite war ich so dankbar, dass sich ihr Schmerz Bahn brechen konnte... auf der anderen Seite war ich so heillos überfordert. Ihr Schmerz ist mein Schmerz... Die Verarbeitung ist wichtig... Auch Ada fühlt die Amputation als Zwilling: "Mama, irgendwas fehlt mir beim Einschlafen... aber ich weiß nicht genau was...ich glaube, ich möchte nicht allein einschlafen" (Ada und Vianne hatten immer ein Zimmer gemeinsam und haben sich auch zusammen ins Krankenhausbett gekuschelt). Auf die Frage im Freundebuch: "Was wünscht du dir am meisten?" lautete Adas Antwort: "Das Vianne wieder hier ist - und das wir beide (Antonia und sie) immer Freunde bleiben." Und kurz darauf sehe ich sie in ihrer jeansblauen Latzhose über die Wiese preschen und die Welt umarmen...  Ich sehe Luke und Ada nebeneinander, zielstrebig, kraftvoll durch das Wattenmeer wandern  - den beiden kann so schnell niemand mehr etwas vormachen - auch wenn sie noch reifen müssen ... und ich bin voller Ergriffenheit und Stolz auf diese beiden starken Kinder. 

Vianne hat uns übrigens einen Gruß in Cuxhaven - in der Wohung, die der  Elterntreff für leukämie- und tumorerkrankte Kinder Dortmund zur Verfügung stellt - hinterlassen. Tief versteckt unter den Veranstaltungsprospekten haben wir ihr "Krickel-Krackel-Prinzessin-gesucht"-Malbuch gefunden. Im Einband stand ihr Name, aber ich hätte es sowieso wiedererkannt. Sie muss es 2014 dort vergessen haben, als sie nur wenige Tage nach ihrer Rezidiv-OP voller Tatendrang durch Schlick und Watt gerannt ist,  Sandburgen gebaut und trotz kaum verheilter Narbe auf dem Trampolin Salti gesprungen ist und sich ins Meer gestürzt hat. Ich war nicht traurig in diesem Moment - nur ergriffen. Danke, kleine Maus, für deinen Gruß... Danke für deine Spuren...

Sonntag, 3. September 2017

Eine Reise...


Echtzeit! 26. August 2017

Zitat Ada, abends, kurz vor dem Einschlafen, nachdem ich ihr "Hanni und Nanni" vorgelesen hatte: "Ich würde auch so gerne zusammen mit meiner Schwester  ins Wasser hüpfen!"

Mir fehlt momentan die Zeit zum Schreiben, dabei ist so viel da, was herausfließen muss, was förmlich danach drängt, aufgeschrieben zu werden. Diesen Blogeintrag habe ich bereits vor knapp einer Woche begonnen, ohne ihn fertig zu bekommen... und es ist schon wieder so viel passiert, dass ich für mich gefühlt gar nicht mehr weiß, wo ich ansetzen soll... Unter der Woche, auf meinen oft über eine Stunde dauernden Autofahrten zu meiner Arbeit, fließen auch nach zwei Jahren noch so viele Tränen - meine Trauer kriegt immer dann Raum, wenn ich ungestört bin und auf langen Spaziergängen kommt meistens auch etwas Gutes dabei heraus - oder auf einer Reise...

"Keiner kommt von einer Reise so zurück, wie er weggefahren ist" (Graham Greene 1904-1991).
Ich habe viele Reisen in den letzten zwei Jahren unternommen und alle haben meinen Blick auf die Welt und mich mindestens ein klein wenig korrigiert oder zumindest geschärft. In diesem Jahr wusste ich lange nicht, wo ich in den Sommerferien eigentlich hin wollte, wo wir als Familie einen Platz finden, der uns allen gerecht wird. Für solch eine anstrengende Tour wie 2016 auf Korfu hätte ich dieses Jahr nicht die Kraft gehabt, zu müde war ich im Vorfeld. Aber ein zu ruhiger Hotelurlaub wäre auch nichts für mich. Ich bin nicht nur auf der Suche nach unbekannten Orten, sondern auch nach Menschen, die mich nach vorne bringen, nach Landstrichen, die mich inspirieren, nach Speisen und Getränken, die ich noch nie gekostet habe. Ist es der Hunger nach Leben, nachdem der Tod zweimal an unsere Tür geklopft hat? Ist es die Suche nach Antworten, die mich treibt? Oder ist es der Drang, für Vianne (und Jesse) von dieser Welt zu kosten, weil sie es nicht mehr können?  Schon früher war es für mich ein Highlight, wenn ich in der Fremde Menschen kennenlernen durfte, die ein anderes Leben führen als ich, die mich (heraus-)fordern, deren Ansichten mich nachdenklich stimmen, die mich einen kleinen Moment teilhaben lassen an ihren Erfahrungen und Gedanken - auch wenn ich nicht unbedingt ihre Ansichten teilen muss. Manchmal sind es ganz kleine begrenzte Begegnungen, manchmal ganz intensive. Auf dieser Reise wurde mein Hunger gestillt... Erst im Mai hatten wir einen Plan, wo es hingehen sollte...
Bevor wir vor rund drei Wochen in unseren Urlaub starteten, ging ich noch am selben Nachmittag zum Friedhof und verabschiedete mich von Vianne (und Jesse). Früher - "davor" - war mir dieser Ort nie wichtig erschienen und ich habe nie begriffen, wozu wir für unsere Lieben eine Grabstätte brauchen, schließlich liegt dort nur der Körper - und erinnern kann ich mich überall und jederzeit. Doch es liegt viel mehr dort: wenn ich all die liebevoll arrangierten Blumen, Briefe Bastelarbeiten; Ketten und Erinnerungsstücke von den Menschen, die sie so unglaublich lieb haben, betrachte, fühle ich mich ganz nah, ganz verbunden und bin voller Dankbarkeit, dass sie so sichtbare Spuren hinterlassen haben. Und auch für mich ist der Friedhof zu einem Ort geworden, an dam ich Persönliches ablegen kann, ohne dass es zu sehr vom Leben ablenkt.
Unsere erste Route  - sozusagen als sanfte Einstimmung auf den Urlaub und Puffer zwischen Alltag und Ferien - führte uns zum Ledrosee. Morgens um 9 kamen wir nach einer Nachtfahrt durch Starkregen und Gewitter bei strahlendem Sonnenschein an. "Was, rund 1000 km gefahren, um einen See zu entdecken, der mich an die Oestertalsperre erinnert", murrte ich unwillig, wobei der Rest der Familie in lautes Gelächter ausbrach. Zum Glück konnte ich alle überzeugen, die paar Kilometer zurück zum Gardasee zu fahren, wo wir auch ziemlich schnell einen heimeligen Zeltplatz direkt in Surfverleihnähe fanden. Kurz darauf saßen wir schon am Kieselstrand und ließen das klare Wasser, die gewaltigen grau-schimmernden Berge und unseren "Begrüßungsdrink" auf uns wirken. Angekommen!


Am Nachmittag ging ein Sturzregen auf uns nieder und das Wasser floss in Strömen mitten durch unser Zelt. Es war so egal. Wir saßen trocken und behaglich in unseren Innenzelten, fasziniert von den Wassermassen und eingehüllt in unsere Schlafsäcke und das gleichmäßige Trommeln des Regens.Während einer kurzen Regenpause futterten wir heißhungrig die leckersten Campingkocher-Nudeln in frisch-fruchtiger Tomatensauce, die es überhaupt gibt. Am nächsten Tag fuhren wir mit der Gondel auf den Monte Baldo. Das Regenradar zeigte zwar eine kleine Gewitterfront, die in der nächsten Stunde über uns hinwegziehen würde, doch davon wollten wir uns nicht abhalten lassen. Nach Olivengrappa und Käsekuchen machten wir uns mit Luke und Ada etwas zu spät an den Abstieg, während sich der Himmel bereis bedrohlich verdunkelte. Noch in Gipfelnähe prasselte der Hagel auf uns nieder, Blitze zuckten, Donner grollte. Ehrlich gesagt genoss ich die Naturgewalt! Micha war besorgt, Ada hatte Angst und die Hagelkörner taten ihr weh, Lukes Begeisterung hielt sich in Grenzen. Trotz Funktionskleidung waren wir innerhalb weniger Minuten bis auf die Unterhose durchnässt, doch eine Umkehr über die Bergkuppe zurück zum Gipfelrestaurant schien mir keine Alternative, gerade weil wir auf dem Bergrücken den Blitzen noch mehr ausgeliefert wären. Das Gewitter zog über uns hinweg, aus kleinen Rinnsalen wurden Bäche, die uns auf unserem Abstieg begleiteten. Die Kinder fanden es mittlerweile spannend. Lediglich die Kälte beeinträchtigte den Abstieg. Doch je tiefer wir kamen, desto stärker wärmte uns die hervorkommende Sonne und nach und nach trockneten unsere Kleider. Abends gab es zur Stärkung im Restaurant Haxe und Hähnchen (ich verzichtete lieber). Zum Surfen kamen wir leider nicht, da nicht genügend Wind da war. Egal. Am nächsten Morgen frühstückten wir im Schneidersitz auf unseren Isomatten, packten unseren Zeltkram zusammen und machten uns auf den Weg in die Toskana - nach Chiusdino, südlich von Sienna, einem absolut herrlichen Fleckchen Erde mit scheinbar eigener Zeitrechnung....
Die Wegbeschreibung hörte sich schon gut an: nach diversen Kurven "einfach vor der Schreinerei an der großen Mülltonne rechts einbiegen und solange geradeaus fahren, bis es nicht mehr weitergeht." Thomas Anwesen/Gehöft/kleines Paradies lag auf einem Hügel mit Blick auf das kleine Örtchen Chiusdino. Da niemand vor Ort zu sein schien, erkundeten wir das Gehöft: überall gab es etwas zu entdecken: Kunst, Keramik, altertümliche Scherben, Mosaike. 












 
Die Kinder entdeckten die selbstgebaute Seilbahn in beachtlicher Höhe, ein Trampolin, Spielgeräte. Aufgespannte Hängematten schaukelten lässig im Wind, mehrere Veranden luden zum Aufsaugen der Landschaft ein - Licht, Farben, Kornfelder, Zypressen. Dazu der Geruch frischer Pinien, gepaart mit Rosmarin. Die saftigen Weintrauben fielen uns beinahe in den Mund. Ada und Luke rannten voller Vorfreude sogleich zum Schwimmteich - schließlich hatten wir über 30 Grad. Wir folgten. Ada versuchte tapfer ihre Enttäuschung zu überwinden, aber irgendwann drängten die Tränchen hervor: der Schwimmteich war beinahe ausgetrocknet, nur ein armseliger brauner Tümpel hielt sich beharrlich. Ich hatte es schon vermutet, schließlich waren die anhaltende Dürre und die Waldbrände in diesem Jahr in der Toskana Thema in den Medien gewesen. 

Wir erkundeten einen kleinen Innenhof. Keine Menschenseele in Sicht. Nachdem ich auch telefonisch niemanden erreicht hatte, klopfte ich irgendwann verhalten an verschiedene Türen und schickte ein zaghaftes "Halloooo???" in die Räume. Und aus einem Werkraum tauchte schließlich Thomas auf - mit zerknautschtem Hemd und kurzer Arbeitshose - leicht irritiert, da er uns fälschlicherweise erst für den folgenden Tag erwartet hatte. Der gebürtige Amerikaner, stolze 72 Jahre alt, war mir auf Anhieb sympathisch. Er entschuldigte sich - zerknirscht lächelnd - für sein Versehen und die nicht fertig hergerichteten Räumlichkeiten.  Thomas, Archäologe/Ägyptologe, spricht fließend deutsch (mit einem wunderbaren amerikanischen Akzent), zudem arabisch, englisch, italienisch. Sein geschichtliches Wissen im Kontext zu den weltpolitischen Entwicklungen fasziniert mich nachhaltig. Er sagte so viele tiefgründige Dinge, sah Vernetzungen und Zusammenhänge, die ich so noch nie wahrgenommen hatte. Und er folgte meinen Gedankengängen, stellte Rückfragen und entwickelte sie weiter. Wehmütig denke ich an die Abende zurück, die wir diskutierend bei einem leckeren Wein aus seinem Weinkeller unter dem klaren Sternenhimmel saßen. Schnell durchblickte er mich und nahm wahr, dass wir als Familie eine besondere Geschichte zu erzählen haben. Bei ihm hatte ich überhaupt kein Problem damit, mich zu öffnen. Er erzählte im Gegenzug von seiner Frau, die an einem Gehirnschlag gestorben war und bedankte sich anschließend für meine Offenheit. Und Thomas hatte die besten Erkundungstipps: als erstes verriet er uns - damit Ada wieder lächelte - von dem wunderbar frischen Bach in der Nähe, dem einzigen, der momentan noch genügend Wasser führte und den nur wenige kennen, weil er so versteckt liegt. 



Wir verbrachten eine erdende, inspirierende Woche in der Toskana. Morgens machte ich Yogaübungen mit Blick auf die sanften Hüglel, bei Sonnenuntergang zeichnete ich.

 Zwischendurch erkundeten wir die Region. In Chiusdino bekamen wir von der liebenswerten, älteren Obst- und Gemüsehändlerin,  bei der wir uns mit frischen Tomaten, Eiern und Wassermelone versorgten, einen Mini-Sprachkurs in Italienisch, wohl auch weil sie merkte, dass wir lebhaft versuchten, unsere dürftig vorhandenen Italienischkenntnisse aus Respekt vor Land und Leuten anzubringen.

 In Sienna durften wir die Generalprobe des berühmten "Palio" - "dem härtesten Pferderennen der Welt" auf der Piazza del Campo erleben. Zur richtigen Zeit am richtigen Ort ergatterten wir duch Zufall die nur in begrenzter Anzahl vorhandenen und äußerst begehrten Sitzplatzkarten für die Tribüne. Aufgeregt fieberten wir mit den stolzen Reitern und Pferden mit, während die einzelnen bunten Stadtteilgruppen ihr Pferd und ihren Jockey lautstark mit Gesängen und Parolen anfeuerten. Zehn der 17 Contraden (Stadtteile) Siennas treten gegeneinander an, wer welches Pferd zugesprochen bekommt entscheidet das Los. Weit mehr als 20.000 Besucher drängten sich in dem eingezäumten Innenraum. Was für eine Mischung aus Farben, Leben, Stärke, Spannung, während die untergehende Sonne um die letzte Häuserecke verschwand. Ada, meine kleine Pferdenärrin, wusste vor Freude und Aufregung gar nicht mehr, wohin mit sich. Inmitten der Einheimischen genossen wir anschließend Wein und Campari-Soda und Pizza. Als Thomas das hörte, schüttelte er nur ungläubig den Kopf - er hatte es in den ganzen 30 Jahren, die er bereits in der Toskana lebte, noch nicht geschafft, eine Tribünenkarte zu bekommen. 
 








 
Gegenüber von Elba stürzten wir uns ins Meer, sprangen aus mehreren Metern Höhe in "unseren" Lieblingsbach, besichtigten die älteste (mittlerweile verfallene) Kirche gotischer Bauweise.


 Ada und ich flüchteten in Volterra vorzeitig aus Abscheu vor solch geballter menschlicher Perversion und Abartigkeit aus dem Museo del Tortura (Foltermuseum). 


Auf Colle Puccioli bei Thomas fühlten wir vier uns einfach nur wohl: Ada und Luke erkundeten mit weiteren  Kindern das Gelände oder streichelten die niedlichen Katzen des Gehöfts und veranstalteten Schubkarrenrennen, wir spielten Boccia und lagen stundenlang in den Liegestühlen und betrachteten Sterne und Sternschnuppen, blödelten herum und erzählten uns gegenseitig ziemlich blöde Witze. Und auch mit den Spinnen, Skorpionen und Tausendfüßlern, die, sobald wir das Licht einschalteten, blitzschnell in den Ritzen des alten Gemäuers verschwanden, arrangierten wir uns nach und nach. Wehmütig nahmen wir nach einer Woche Abschied von Colle Puccioli und machten uns auf den Weg Richtung Pinzgau/ Österreich. Solche Wassermassen, wie sie unterwegs auf den diversen Pässen auf uns niederströmten, kannten wir gar nicht mehr. Thomas hätte sich über das Wasser gefreut. Aus den Bergmassiven ergossen sich gewaltige Wasserfälle, Hagel prasselte auf unser Auto nieder, in Schrittgeschwindigkeit kämpften wir uns in unserem Auto durch Starkregen und Sturmböen. Unser Hotel lag malerisch auf 1400 Metern Höhe. Kurz vor dem Parkplatz blockierte eine Almkuh die Straße und hinderte uns am Einparken, bis sie genüßlich unseren Außenspiegel mit ihrer langen Zunge abgeschleckt hatte. Wir konnten uns vor Lachen kaum halten. Was für eine Begrüßung! Nach so viel Leben inmitten der Natur kam uns unser Hotelzimmer noch behaglicher vor, als es eh schon war. Die Kinder sprangen gleich ins Hallenbad, während wir uns erst einmal einen leckeren Cappucino gönnten. Wir hatten auch hier Glück mit dem Wetter und die Sonne begrüßte uns bei etlichen Aktivitäten: wir schwangen uns alle vier in rund 160 Meter Höhe über eine Schlucht, wobei wir vorher Wetten abgeschlossen hatten, wer von uns kneifen würde. Aber alle machten mit. Ada und Luke sind so tapfer. Ich dachte ganz intensiv an Vianne und Jesse, während ich Anlauf nahm und mich vom Boden löste. Auf dem anschließenden Downhill-Trail versuchten wir, mit den Bikes nicht in den Dreck zu fliegen (was nicht immer gelang), jodelten uns auf der Jodelwanderung frei und wanderten über malerische Pfade zu den höchsten Wasserfällen Europas und zu urigen Almen, auf denen wir jedesmal "Zirbel" kosteten (der angeblich auf jeder Alm - je nach Familienrezept - anders schmecken soll). 






Abends trugen wir spannende Tischtennis- und Billard-Turniere aus, gewannen beim Bingo und ruhten unsere müden Glieder in der Sauna aus. Ach ja, eine Massage gönnten wir uns auch noch. Wir verlängerten unseren Aufenthalt noch um einen Tag, weil es unserer Seele gut tat. Auf den hohen Gipfeln, in der Abgeschiedenheit der Natur, erinnerte ich mich leise und wehmütig an Vianne und Jesse.
"Das Leben besteht nicht in der Hauptsache aus Tatsachen und Geschehnissen. Es besteht im Wesentlichen aus dem Sturm der Gedanken, der jedem durch den Kopf tobt." (Mark Twain 1835-1910)
Am Tag unserer Rückreise strahlte die Sonne bei angenehmen 28 Grad, so dass wir uns kurzerhand entschlossen, diesen schönen Tag nicht im Auto zu verbringen. Das Zillertal (ein Staufaktor) wollten wir aber erst hinter uns lassen. Wir kamen an Kaltenbach und Hart vorbei. Bäng! Die Erinnerungen stürmten von einer Sekunde auf die andere ungefiltert, brutal und unaufhaltsam auf mich ein. Ich hatte keine Chance. Vianne hat hier Skifahren gelernt, die Skilehrer konnten es nicht fassen, dass sie ein Jahr Intensivbehandlung mit Chemo und Bestrahlung hinter sich hatte und dennoch so kraftvoll und begeisterungsfähig die Pisten hinunter düste auf ihren gerade einmal 80-cm-Skiern. Wir waren damals so erleichtert, so voller Zuversicht - glücklich - weil wir dachten, diese Scheißkrankheit in den Griff bekommen zu haben. Ich konnte all diese Momente voller Glück hier im Zillertal, durch das ich nun wieder fuhr, so sehr spüren.... gemeinsam mit der brutalen Erkenntnis, dass ich mich nie wieder so fühlen werde. Vianne ist tot! Nicht geheilt. So deutlich zu spüren, was mir, was uns genommen wurde, schnitt mir ganz tief ins Herz. Ich ließ mir nichts anmerken. Wir besprachen, welcher See sich auf unserer Heimatroute anbieten würde. Bevor mein Verstand meinem Unterbewusstsein Einhalt gebieten konnte, hörte ich mich betont lässig sagen: Hey, lasst uns doch zum Achensee fahren und dort den Nachmittag verbringen, der See ist doch super schön, liegt auf der Route, es ist nicht mehr weit dahin...." Micha und Ada stimmten zu, Luke murrte, weil er schnell nach Hause wollte.  Der Achensee: letzte Urlaubsstation mit Vianne....letzter Urlaub für Vianne....während des zweitägigen Aufenthalts zum Ende der Reise ging es ihr häufig nicht mehr gut - Schmerzattacken, furchtbares Erbrechen - zwei Wochen später war sie tot... letzter Urlaub mit Jesse... Luke und Jesse hatten sich hier - trotz Sorgen um Vianne - in einem kleinen leichten Moment bei einem "Quizduell" vom Steg in den kalten See geschubst... Dennoch zog mich der Achensee magisch an. Ich konnte mich  nicht dagegen wehren. Wir kamen an. Luke weigerte sich plötzlich, aus dem Auto auszusteigen. Erst dachten wir, dass er herumzicken würde, weil er lediglich schnell nach Hause und keinen Zwischenstopp mehr einlegen wollte. Ich meckerte, fuhr ihn barsch an, forderte ihn auf, jetzt endlich auszusteigen. Er reagierte heftig, brüllte uns an, dass er auf gar keinen Fall aussteigen werde. Schließlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Auch er litt - nur das er sich diesem Ort nicht stellen wollte. "Ist es wegen der Erinnerungen?", fragte ich ihn. Er nickte. Ich bat ihn eindringlich, mit uns zu kommen, schlug ihm vor, eine Tour um den See zu machen, die uns 2015 nicht möglich war, die wir aber noch von früher kannten (2008 waren wir schon einmal mit Jesse, gerade 8 Jahre alt und Luke, 4 Jahre alt, dort). Er bat um ein paar Minuten, kämpfte mit den Tränen. Widerwillig folgte er mir schließlich. Wir erreichten den Zugang zum Kletterpfad, es war niemand um uns herum. Mit einem Mal brach alles aus Luke heraus. Er fing an zu schreien, Tränen rannen über seine Wangen... Warum muss ich mich und die Kinder immer in diese Situation bringen??? Auch ich konnte nicht mehr, war emotional außer mir, weinte mit ihm und ließ den Schmerz in Sturzbächen herausfließen. Vor meinen Augen sah ich Vianne, wie sie sich mit ihren letzten verbliebenen Kräften zum Wasserspielplatz schleppte, sah sie sich im Wohnmobil übergeben, sah sie in einem Moment, als es ihr wieder etwas besser ging, eine riesengroße Portion Pommes mit noch mehr Majo heißhungrig futtern, sah Ada, wie sie im Campingplatz-Shop zwei "Little Ponys" - eines in gelb und eines in rosa - für sich und Vianne kaufte. Trotz all der emotionalen Bilder versuchte ich irgendwie, Luke zu helfen und ihm etwas von seinem abgrundtiefen Schmerz zu nehmen. Micha und Ada hatte ich eben noch vorschicken können, um Luke und mir Raum zu geben. Auch die aufgesetzte Sonnenbrille konnte meine Tränen nicht verbergen. Irgendwann fing Luke an zu sprechen: "Ich konnte Vianne nicht trösten. Es ging  ihr hier so schlecht. Ich habe viel zu wenig für sie getan. Ich habe es nicht gut gemacht..." Ich konnte nicht glauben, was ich da hörte. Nicht nur die Sehnsucht nach Vianne, auch Lukes eigener Schmerz legte sich wie ein Ring um mein Herz. Wie konnte ich ihn nur trösten? Plötzlich merkte ich eine ganz zarte, seichte Berührung am Arm. Ein weißer Schmetterling hatte sich während des Laufens auf meinen Arm gesetzt und verharrte dort - und sprengte die Mauer aus Schmerz und Verzweiflung. Vianne war da - genau im richtigen Moment. Ich musste lächeln und ich wusste, was zu tun war. Ich hielt Luke all die Momente vor Augen, in denen er Vianne zum Lachen gebracht hat, in denen er ihr zur Seite stand. Er war - er ist - solch ein wunderbarer, liebevoller Bruder. Ich erinnerte ihn daran, dass Vianne ihn immer so lustig und toll fand, ich erinnerte ihn daran, wie er ihr auf Mallorca bei dem steinigen Aufstieg Mut zugesprochen hat, wie oft und phantasievoll er mit ihr gespielt hat, wie er zwei Wochen vor ihrem Tod mit ihr auf einer Decke im Grünen gelegen und mit ihr gemeinsam Wolkenbilder betrachtet hat - ein ganz friedlicher, inniger Moment. So schwer diese Konfrontation am Achensee auch war: es war gut, dass sich all dieser Schmerz bei Luke  (und mir) Bahn brechen konnte. Es war eine reinigende und zugleich schmerzhafte Wanderung, die uns beide einen Schritt nach vorne gebracht hat. Wir alle waren hinterher etwas befreiter und aßen, nachdem wir noch ein belebendes Bad im eiskalten See genommen hatten, eine riesige Portion Pommes mit noch mehr Majo (für Vianne).Wir haben in diesem Sommer eine lange Reise gemacht...

Nach gestern zurückzugehen wäre ja ganz unnütz, weil ich da jemand anders war. (aus Alice im Wunderland von Lewis Carrol).  
Ja, ich habe mich verändert. Unsere Familie hat sich verändert. Aber nach vorne sehen und gehen ist auch nicht so leicht, auch wenn das die einzige Richtung ist, die uns weiterbringt...