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Freitag, 24. Juli 2020

Fünf Jahre

Fünf lange, seltsame Jahre ohne Vianne - seltsam ist der treffende Ausdruck, die Empfindung, ob etwas lang oder kurz ist, liegt im Sinne des Betrachters. Lang kommt mir die Zeit vor, seitdem ich meine jüngste Tochter das letzte Mal atmend und mir ihrer Wärme bewusst in meinen Armen halten durfte. 
Alice: "Wie lang ist für immer?"
Weißer Hase: "Manchmal nur für eine Sekunde."
Lang, weil ich Vianne seitdem als lebendiges körperliches Wesen jeden einzelnen Tag vermisse. Lang aber auch, weil wir als Familie die Zeit nach ihrem Tod intensiv gelebt haben - eine Zeit voller neuartiger Eindrücke, eine Zeit des Ausprobierens, des Füllens, des bis an die Grenzen gehens.
 
 



Meine Einträge in diesem Blog fehlen mir, das merke ich, weil meine Unausgeglichenheit mit jedem ungeschriebenen Wort wächst. Von Januar bis April habe ich meine Gedanken über Vianne in meinem Journi-Blog "far far away" von unserem vierteljährliches Sabbatical in Thailand und Australien einfließen lassen. Deshalb war es hier so lange so still. Nach unser Rückkehr habe ich zuerst den entschleunigten Wiedereintritt in unser bekanntes Leben genossen und mir Zeit geschenkt, bevor unsere kleine "Eira", eine zuckersüße Australian Shepherd Hündin, bei uns Einzug hielt und unser Familienleben komplett auf den Kopf stellte und gehörig durcheinanderwirbelte. Eira brachte uns zur Verzweiflung, trieb uns halb in den Wahnsinn und schlich sich dabei unaufhaltsam in unser aller Herz.
 

Vianne hätte Eira ebenso geliebt wie wir. Vor einigen Wochen ist etwas Seltsames passiert: Ich habe Eira beim Spaziergang die Führung überlassen. Sie steuerte schnurstracks auf den Friedhof zu und zog in Richtung von Viannes Grabstätte, als ob sie spüren würde, dass auch an diesem Ort etwas von ihrzurück geblieben ist. Ada allerdings bringt unsere samtweiche, herrlich entspannte und mit einem Hauch Überheblichkeit gesegnete Karthäuserkatze "Vita" noch mehr mit Vianne in Einklang.
 
Vianne war Namensgeberin für Vita. Vita hat unaufdringlich und doch präsent auf der Sofalehne, ganz nah bei Vianne, gelegen, während meine Tochter nach und nach entschwand. Allein bei diesem Bild kommen mir schon wieder die Tränen, obwohl es mir eigentlich gut geht.
Zurück zum roten Faden: noch in der Eira-Aklimationsphase erwachten wenige Wochen nach unser leicht turbulenten Australien-Rückreise wieder die Hummeln in meinem Hintern und ich machte mich mit Ada, ihrer Freundin und Eira auf den Weg zum Weilandtshof an die Ostsee, wo ich eine Woche verbrachte. Interessant war, dass mir der Hof dieses Mal nicht die erforderliche innere Ruhe bescherte wie sonst und ich, obwohl ich zwischenzeitlich so viele Male dort war, dieses Mal umso schmerzlicher an Viannes Verlust erinnert wurde. Einen Flashback hatte ich, als ich mit Ada und Antonia über die Fehmarnbrücke zum Meeresaquarium fuhr. Meine Gedanken und Gefühle überschlugen sich, purzelten wild durcheinander. "Wir waren doch schon einmal in dem Meeresaquarium - oh Hilfe, ich kann mich nicht mehr erinnern, ob Vianne noch dabei war.... denk nach, denk nach, denk nach...." Während Antonia schlief, sprach ich gegenüber Ada laut meine Gedanken aus: "Weißt du noch, das letzte Mal waren wir 2012 auf Fehmarn - mit Vianne." Wirblige Gedanken. Erkenntnis. Nein. Wir waren 2015, kurz nach Viannes Tod, noch einmal auf  Fehmarn - in Puttgarden. Jesse war noch dabei. Er wollte keine Fotos von sich, weshalb es auch keine gibt. Auf der Autofahrt über die Brücke kommen mir heiße, unaufhaltsame, lautlose Tränen.

 
Meine einfühlsame Tochter erspürt mein Gefühlschaos und streichelte mir sanft vom Rücksitz aus über den Rücken. Wunderbare Ada. Ich lieferte die beiden Mädels am Meeresaquarium ab und machte mich mit Eira auf den Weg zum Hafen. Dort soll es an der Silo-Kletterstelle sehr preisvert ausgediente Leinen geben, die sich gut als Schleppleine für den Hund verwenden lassen. Hier am Hafen war ich definitiv 2012 das letzte Mal:  mit allen Kindern. Kurz bevor Viannes Tumor sein feistes Antlitz auf der MRT-Bildgebung zeigte. Wir hatten Nachbarn aus Hennen am Hafen auf Fehmarn getroffen, die zeitgleich zu uns dort ihren Urlaub verbrachten. Ich weiß noch, wie ich ihnen gegenüber meine Besorgnis aufgrund Viannes schleppenden Gang äußerte und innerlich dermaßen beunruhigt war, so dass es das gesamte Treffen und den Ausflug überschattete. 

Kennt ihr das, wenn euch euer Bauch sagt, dass sich Dinge verdammt richtig anfühlen und getan werden müssen. So ging es mir mit der Alpenüberquerung, die bereits kurz nach meiner Rückkehr von der Ostsee und nach nur einer Woche Arbeit in der Klinik auf dem Plan stand. Die Idee dazu kam so dermaßen spontan, dass ich mich im Nachgang frage, wie schnell und problemlos sich alles organisieren ließ (siehe Journi-Blog: "Ein Berg ist nicht
 genug").
 
Auch auf dieser Reise hatte ich Vianne im Gepäck. Während der sechstägigen Tour zu Fuß von Oberstdorf nach Meran über 3000er, schwindelerregende Hängebrücken und durch tiefe Täler konnte ich mich freilaufen und alle angestauten Gedanken fließen lassen. Ich weiß noch, wie Babsi und ich auf den lezten der am zweiten Tag bewältigten 1000 Höhenmeter irgendwie auf Schulranzen zu sprechen kamen und dann über Umwege auf Viannes Tornister, der noch immer ungetragen bei uns im Haus steht. Versucht mal, gleichzeitig bei so einem Aufstieg zu atmen und zu heulen. Klappt nicht! Mir blieb die Luft weg und ich musste mich erst einmal beruhigen, um wieder durchschnaufen zu können.
Und nun bin ich wieder zuhause und stürze mich voller Elan und Selbstzweifel in meine Arbeit, weil ich aufgrund meiner häufigen Abwesenheiten das Gefühl habe, meinen kleinen Patienten und meinen Aufgaben nicht so gerecht zu werden, wie ich will. Selbstzweifel plagen mich, ob ich gut genug in meiner Tätigkeit bin. Ob meine Expertise ausreicht. Ob ich überhaupt strukturiert genug bin? Ob ich nicht Patienten-Einschätzungen noch intensiver verifizieren müsste und häufiger auf Screeningverfahren und Testungen zurückgreifen müsste.Das letzte halbe Jahr möchte ich mich ganz intensiv meiner Arbeit widmen - so viel steht fest. 
Aber heute, heute, nehme ich mir all die Zeit für Vianne, die ich möchte. Auch wenn ich hier monatelang nichts niedergeschrieben habe, so drehen sich meine Gedanken und Gefühle ständig um meine jüngste Tochter. Ich trage Vianne nun auf meiner Haut. 
 
Wie es dazu kam, könnt ihr ausgiebig in Jesses Blog "Wir sehen uns im Pink Flamingo" nachlesen. Nur soviel sei gesagt: Schon lange wollte ich ein Tattoo von Vianne auf mir tragen, und in Bangkok war der richtige Augenblick und der richtige Mensch, der diesen Wunsch in die Tat umsetzen konnte, zur Stelle. Dinge geschehen, wenn sie geschehen sollen. Wenn die Zeit reif dafür ist. Das Tätowieren war ein Akt der Verinnerlichung, der Liebe und der Verbundenheit, und ich habe jede einzelne Sekunde und jeden einzelnen Nadelstich genossen. Aus Bangkok habe ich Vianne einen kleinen Jade-Elefanten mitgebracht, der auf ihrem Grab auf sie Acht gibt. Elefnaten vereinen so viele wunderbare Eigenschaften - ein passendes Geschenk. Faszinierend finde ich es, dass die kleine Spieluhr, die ich 2015 aus Nizza mitgebracht habe, noch immer ein hoffnungsfrohes "Somewhere over the Rainbow" vor sich hinorgelt. Probiert es ruhig mal aus.... Es ist schön...
Zu Viannes Geburtstag habe ich einen großen, kobaltblauen Kornblumenstrauß gepflückt und auf ihr Grab gestellt - mehr nicht. 
Ada wird momentan wieder vermehrt bewusst, was ihr genommen wurde: ihre Herzensschwester, ihre innigste Freundin und Verbündete, ihre Kicher-Kumpanin, ihre ebenbürtige Streitpartnerin, ihr größter Fan und ihre schärfste Kritikerin, ihre Seelenverwandte, ihre Komplizin. Das Mädchen, das die Welt bunt gezeichnet hat, das ihrer Umgebung geholfen hat, das Wunderbare und Magische im Leben zu entdecken. Sie war jemand, die die Welt eingeatmet und unsere Herzen schneller hat schlagen lassen. Sie neckte den Wind und streckte dem Regen ihre Zunge raus - um ihn zu kosten. 
 
Sie streichelte Adas und unsere Seele, liebte Märchen, Zuckerwatte und Schoofis Hühnereier, schwang sich mit den Drachen in die Lüfte und schlürfte grüne Smoothies, während ihre Geschwister dankend verzichteten. "Verfühlt nochmal" war nur eines ihrer Lieblingsspiele. Und auf der Schaukel flog sie bis in den Himmel. Ihren heißgeliebten Demeter-Vanillejoghurt schlürfte sie noch kraftlos in ihren letzten Tagen. Ihr Schnulli roch noch so lange nach Vanille... Ich schaffe es bis heute nicht, diesen Joghurt zu kaufen. Ada reicht allein die Erinnerung an manchen Abenden nicht aus und es fließen heiße Tränen. Sie möchte Vianne körperlich spüren, mit ihr zusammen das Zimmer umräumen, planen, Kopf an Kopf über den Hausaufgaben stöhnen. "Wir könnten voneinander Hausaufgaben abschreiben", sagt sie leise zwischen zwei Schluchzern. Sie fragt sich häufig, wie ihr Leben mit Vianne an ihrer Seite aussehen würde. Das fragen wir uns alle...
An diesem Abend vor wenigen Wochen brach die ganze Verzweifelung aus meiner starken Tochter heraus. "Was ist, wenn Luke auch noch geht. Er ist doch schon 16. Wenn Luke geht, bin ich ganz allein. Erst Vianne...dann Jesse..." Ich sage ihr relativ hilflos, während ich mit meinen eigenen Tränen kämpfe, dass jetzt ja Eira bei uns ist. Ada kann genau sagen, was sie fühlt. Das ist eine Gabe. "Vianne und ich haben eine besondere Verbindung. Ich horche immer mal wieder in mich hinein, ob ich das noch zu jemand Anderen habe - aber das ist nicht so. Vianne war so perfekt!" Luke kommt leise in Adas Zimmer, als sie ein neuer Weinkrampf packt. Er hat ebenfalls eine Gabe. Er gibt Sicherheit und dringt zu Ada durch - behutsam, einfühlsam, souverän und voller Wärme. Er entlockt ihr sogleich ein kleines Lachen. Danke Luke! Später sitzen Ada und ich noch verheult und lachend auf ihrem Bett und machen einen Zielwettbewerb mit unseren zahlreichen vollgeschnäutzen Taschentüchern auf ihren Mülleimer. Ich habe gewonnen.

Far far away

"...Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben..." (H. Hesse)

Im Januar 2020:
Ich bin meilenweit von Vianne entfernt... und ihr doch so nah, ohne sie wirklich erreichen, ohne sie küssen und umarmen zu können, ohne sie kichern zu hören und tanzen zu sehen. Wir sind in Thailand, umgeben von saftig blühenden Blumen, Früchte tragenden Bananenpalmen, gewaltigen Bäumen, bunten Blumen,  filigranen Schmetterlingen und neugierigen Äffchen - überall um uns überbordendes Leben. Glitzerndes Meer und schillernde Unterwasserwelt, Sternschnuppen und hoffnungsvolle Sonnenauf- und friedvolle Sonnenuntergänge.










Und Vianne ist tot. Dieser krasse Gegensatz wird mir hier noch bewusster als Zuhause. Außerdem gibt es hier keine konkrete Erinnerung an sie, was einerseits den Schmerz dämmt und ihn zugleich anfacht. In unserem Zuhause habe ich sie am Intensivsten erleben dürfen. Ihre Hühnchen-Spieluhr, ihre kleinen, gesammelten Schätze, ihre blau-pinken Schuhe liegen 8000 Kilometer entfernt in einem Koffer. Wie gerne hätte ich sie mit ihrem  Koffer auf diese Reise genommen. In echt, atmend, lebendig. Ich glaube, dieser Prozess der inneren Zerrissenheit muss auf dieser Reise stattfinden. Eigentlich fühle ich mich an sich gut und ein Stück weit befreit und genieße diese wunderbare Familienzeit mit Ada, Luke und Micha, voller Demut und Freude vor dem Leben, das uns umgibt.