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Freitag, 14. Dezember 2018

Wenn Schmerz sichtbar wäre..

Echtzeit! 14.12.18

Auch nach drei Jahren schickt uns der Jugendherbergsverband im Dezember noch einen Ausweis für Vianne zu - nicht deren Fehler...ich habe es nur nicht geschafft zu sagen, dass wir für Vianne nie wieder einen Ausweis benötigen werden.
Wenn Schmerz sichtbar wäre...

Ich öffne die Kühlschranktür. Im oberen Fach liegt noch immer das "Diazepam" - für Vianne - gegen Krampfanfälle - für den Notfall. Wir werden nie wieder Medikamente für sie brauchen.
Wenn Schmerz sichtbar wäre...

Ada steht im Bad mit unserem Laptop. Sie hört darüber Musik, kämmt sich ihre Haare und singt versunken zu "Lass jetzt los" (aus der Eiskönigin) mit. Sie hat dieses Lied lange nicht mehr angehört. Ada und Vianne haben damals gemeinsam zu der Filmmusik in unserem Wohnzimmer ganz befreit gesungen und getanzt. In der  Schweiz ist Vianne während der Protonentherapie mit diesem Lied in die täglichen Sedierungen geglitten. Dieses Lied wird sie nie wieder erreichen.
Wenn Schmerz sichtbar wäre...

In der Küchenschublade liegt noch ein alter Kalender aus dem Jahre 2012 - dort stehen sämtliche Geburtstage von Freunden drin und da ich zu faul bin, die Daten zu übertragen, bewahre ich diesen Kalender weiterhin auf. Beim Durchblättern finde ich noch weitere Eintragungen: eine handschriftliche Sammlung von Geschenkideen für die Weihnachtszeit. Ich lese: "A +V: Schlitten, Fingerfarbe, Knete, Buch-Adventskalender". Vianne wird nie wieder ein Geschenk auspacken, auch wenn wir weiterhin ihre Tütchen in unserem Familien-Adventskalender füllen.
Wenn Schmerz sichtbar wäre...



Ich halte am Donnerstag meinen Vortrag auf der APRO-Tagung und fühle mich schlecht vorbereitet, da die Tage zuvor so vollgestopft waren und kaum Raum zum Üben geblieben ist. Am Abend zuvor sage ich zu meiner Familie, dass ich  sicherlich die Hälfte meines Vortrages vergessen werde. Und dann flammt er auf, dieser eine Satz, den Vianne vor der Kindergarten-Weihnachtsaufführung zu einer sehr nervösen Ada gesagt hat: "Wenn du Angst hat, etwas zu vergessen, dann vergisst du es nur noch schneller." Hab also keine Angst! Sie wird nie wieder weise Worte sprechen können.
Wenn Schmerz sichtbar wäre...

Ich gehe die Mappe mit Adas Grundschulinformationen durch. Ganz unten finde ich eine Einladung zum Schulspiel, kurz bevor es in die 1. Klasse geht. Die Einladung ist auf Vianne ausgestellt. Sie wird nie eine Schule besuchen können.
Wenn Schmerz sichtbar wäre...

Vianne rutscht auf Holzeisenbahnschienen "skifahrend" durch unser Wohnzimmer, malt pfeifend bunte Bretter auf unserer Terrasse an,  schreit lauthals durchs Treppenhaus: "Ada, nicht ohne mich weiterspielen, bis ich vom Klo zurückkomme", schleckt in der Küche genüsslich die Kuchenteigschüssel aus, schleicht sich heimlich in das Zimmer von Luke, um Legobauten auseinander zu nehmen, oder zu Jesse, um die Aufmerksamkeit seiner Freunde auf sich zu ziehen, lässt sich im Schlafzimmer kichernd von uns auskitzeln und spielt inbrüstig in ihrem Kinderzimmer mit Ada mit ihren Filly-Pferdchen und Schleich-Figuren. Sie wird nie wieder in unserem Haus körperlich anwesend sein.
Wenn Schmerz sichtbar wäre...

...wäre er eine hohe, tiefschwarze, undurchdringliche Wand, eine Wand, die aufgrund ihrer faszinierend glatten, glänzenden Struktur ein Hochkletten und jegliche Hoffnung darauf im Keim ersticken würde. Trotzdem tasten meine Hände über diese nicht greifbare Struktur, auf der Suche nach Halt - immer und immer wieder abrutschend, unerbittlich tastend, suchend...

Und dann schickt uns Vianne Regenbögen. Erst letzten Montag wieder. Einen doppelten... und baut uns eine bunte Brücke über diese Wand aus Schmerz hinweg. "Bunt ist meine Lieblingsfarbe, Mama."

Auch unsere engsten Vertrauten bauen uns diese Brücken. Gerade eben, als ich von diversen "Kletterversuchen" schon ziemlich erschöpft am Fuße dieser schwarzen Wand kauerte, rief einer meiner besten Freunde an, hörte zu, stellte gute Fragen, brachte mich mit seiner ganz eigenen Art von Humor zwischen meinen Tränen zum herzhaften Lachen. Danke Frank!

Freitag, 7. Dezember 2018

Mit Vianne in Wien - eine Achterbahnfahrt der Gefühle

Echtzeit! 18. Oktober 2018
"Von Geburt an ist der Tod unser ständiger Begleiter - wir nehmen ihn anfangs nur nicht richig wahr, werden zwar hin und wieder an ihn erinnert, aber beachten ihn nicht wirklich. Bis... ja bis... er laut und deutlich an unsere Tür klopft und wir ihn nicht mehr ignorieren können - und er schließlich in unser Leben tritt... Bei uns klopfte er 2015 kräftig an. Oder vielleicht schon 2014, mit dem ersten Rezidiv? Oder ein erstes, zaghaftes Pochen in 2012 mit der Erstdiagnose...?"

Mit diesen Worten eröffneten Vianne und ich unsere Lesung in Wien vor einigen Wochen. Was für ein harter Weg dorthin... Was für eine Achterbahnfahrt der Gefühle in nur wenigen Tagen. Die Woche Urlaub, die ich im Anschluss hatte, habe ich dringend benötigt. 
Doch zurück auf Anfang. Ich könnte jetzt ein rosarotes Bild zeichnen, wie ich in heimeliger Atmoshpäre Wien entspannt entgegengeschaut habe. Bullshit. Den Dienstag - einen Tag vor meinem Abflug - habe ich noch lange gearbeitet und erst abends hektisch Dinge in meinen Koffer geschmissen, mit dem krönenden Abschluss, dass hier zuhause die Fetzen flogen und ich vor lauter Wut, Traurigkeit, Kopfchaos und Anspannung die halbe Nacht kein Auge zugetan habe. Aber, wie so häufig im Leben, ging am nächsen Morgen wieder die Sonne auf und ich machte mich, zwar hundemüde, aber doch ganz zielstrebig, auf zum  Düsseldorfer Flughafen. Infos rund um Wien und den berühmten Wiener Schick bekam ich aus erster Hand von meiner freundlichen Sitznachbarin, einer waschechten Wienerin. Nach der Landung erwischte ich sogar den richtigen Citybus, bevor ich natürlich zu lange in meiner Straßenbahn verweilte und somit den richtigen Ausstieg verpasste. Machte nix. Das Wetter war herrlich, Wien begrüßte mich mit einem babyblauen Himmel und lauschigen 18 Grad, so dass ich mich zu Fuß in Richtung Hotel aufmachte und dabei Wien bestaunte. 

Eigentlich war mir nach gemütlichem Schlendern zumute, aber aufgrund des falschen Ausstieges war ich leider etwas spät dran. Ich konnte flugs noch in meinem Hotel ("Küss die Hand") einchecken, bevor ich mich wieder auf den Weg zum vereinbarten Treffpunkt  machte.  Eine Führung durch die Kapuzinergruft stimmte auf das Tagungsthema der PSAPOH (Psychosoziale Arbeitsgemeinschaft in der Gesellschaft für pädiatrische Onkologie und Hämatologie) ein: "Wie wir dem Sterben begegnen - Was hilft und was hindert in der Begleitung krebskranker Kinder und Jugendlicher". Später ließen wir den Tag im Heurigen ausklingen, bevor ich mich - mittlerweile hundemüde - auf den Rückweg zu meinem Hotel machte - und anfangs nicht in den Schlaf fand. Meine Anspannung und Nervosität so kurz vor der Lesung nahmen nun, nachdem Ruhe einkehrte, einen gewissen Raum ein und noch im Einschlafen betete ich fast mantramäßig meine Eingangsworte hinunter, während ich hundemüde, aber innerlich aufgewühlt  im Hotelbett lag und der Schlaf sich nicht herbemühen wollte. Ich habe sogar überlegt, ob ich kurzfristig noch einen Teil der Lesung umstelle - wie krass. Irgendwann habe ich mich ziemlich trotzig (bildlich betrachtet) in den Hintern getreten und bin schließlich weggeschlummert.  
Ganz zeitig ließ ich mich am nächsten Morgen wecken, denn ich wollte ruhig in den Tag starten und noch ausreichend Raum für Jesse haben, der am Lesungstag zudem Geburtstag hatte.  Die Sonne schien mir ins Gesicht und ein hellblauer Himmel begrüßte mich. Ich war ganz bei mir - kein Vergleich zu den verworrenen, quälenden und schlafraubenden Gedankenfetzen des Vorabends. Auf meinem Spaziergang durch das frisch erwachende Wien hin zum Tagungsort, mit einem duftenden Coffee to go in der Hand, begrüßten und begleiteten mich drei sehr willkommene Gefährten: eine wohlige innere Ruhe, ein Hauch Gelassenheit und eine große Portion Ergriffenheit, so dass die restlich verbliebene Nervosität zum förderlichen Energieboost wurde. Wien erschien mir wunderbar mit Vianne im Gepäck: so rein, so strahlend, so gediegen und so lebendig. Und dann ging alles ganz schnell. Nach dem Technikcheck und Rücksprachen mit dem Vorbereitungsteam standen Vianne und ich auch schon vor dem Auditorium und nahmen das Publikum mit auf die Reise in vergangene Zeiten. Wir haben unsere Sache gut gemacht und konnten die Menschen erreichen, unsere Geschichte erzählen, zum Nachdenken und vielleicht sogar zum Umdenken anregen, sensibilisieren... 
Die restliche Tagung konnte ich entspannt als Teilnehmer genießen und schloss den Tag mit einem zünftigen Abendessen in einem typischen Wiener Wirtshaus im Kreise lieber Kollegen. An diesem Abend fand ich erleichtert in den Schlaf. Doch am nächsten Morgen sollte mein Stressniveau sprunghaft ansteigen, denn wenige Stunden später musste ich feststellen, dass mir meine Geldbörse aus der Tasche geklaut worden war. Nicht nur all mein Bargeld war futsch, auch sämtliche Ausweisdokumente, Kredit- und Krankenkassenkarten. Ich versuchte, Ruhe zu bewahren, gab eine Anzeige bei der Polizei auf, ließ alle Karten sperren, telefonierte kurz mit dem Konsulat wegen des Rückflugs am selben Abend und lieh mir etwas Bargeld, um überhaupt zum Flughafen zu kommen. Ein Kollege meinte nur: "Mensch, hast du ein gutes Krisenmanagement", aber das sah wohl nur nach außen hin so aus. Der Tag war irgendwie gelaufen, das wohlige Gefühl des Vortages komplett verpufft und meine Aufmerksamkeitsspanne bezüglich der weiteren Tagungsinhalte war deutlich reduziert. Als dann auch noch die Nachricht auf meinem Handy aufploppte, dass mein Rückflug sich verspäten würde, hätte ich am liebsten lauthals geschrien. Am Flughafen angekommen fiel dann meine Maske: ich saß im Wartebereich zwischen zahlreichen, mir fremden Menschen, während mir die Tränen hemmungslos die Wangen hinabliefen. Es war mir so egal in diesem Moment. Wen scherte es, ob ich verheult und verrotzt am Flughafen rumsaß. Zum Glück wurde dann doch noch irgendwann mein Flieger aufgerufen und gegen Mitternacht erreichte ich Düsseldorf. Ganz liebevoll wurde ich zuhause von meiner Familie  begrüßt, und nach ausgiebigen Schlaf sah die Welt auch schon wieder freundlicher aus. Die Nachricht eines sehr netten Wieners ließ mich grinsen: Er hatte mein Portemonnaie - nicht unweit des Tagungshauses - in seinem "Mistkübel" (Mülleimer) gefunden - mit sämtlichen Dokumenten und Karten. Kurz darauf schickte er es mir zu. Ich wollte ihm seine Unkosten für den Versand erstatten. Doch er wollte nicht. Seine Antwort: "Das passt schon so, das war meine gute Tat für diese Woche. Dafür ist bei Ihnen jetzt eine gute Tat für den oder die Nächste in Not offen. Liebe Grüße"
Was für eine Achterbahnfahrt der Gefühle in nur wenigen Tagen...

Sonntag, 14. Oktober 2018

Unterwegs

 Zitat Ada, August 2018: "Ich habe nicht gewusst, dass Vianne sterben wird...!" 

Nach Irland folgte Frankreich mit lieben, uns eng verbundenen Freunden, eine kraftspendende und Leichtigkeit lebende Gemeinschaft, die wir über alle Maßen genossen haben im Land des "savoir vivre". Wir haben verbissen gemeinsam in der Hitze die dune du pilar erklommen und sind sie umso befreiter hinuntergelaufen, haben uns mutig in die Atlantik-Wellen gestürzt und tiefe, wohltuende Gespräche geführt, gemeinsam Pastis und Austern geschlürft, uns vor Wildschweinen in Acht genommen und erfolgreich Ameisenangriffe abgewehrt.Wir haben gelebt.... Danke Frank und Nicole, Danke Martin und Petra...ihr wisst gar nicht, wie sehr ihr alle uns mit dem Leben verbindet. Wir sind euch für alle Zeiten dankbar....


Das hat Ada für Vianne erschaffen - aus Seetang, Zeit und Engagement.








Und dann holte uns der bittere Alltag wieder ein - entzaubert von den Empfindungen, die wir zwischen Bergen und Meer erfahren. Anfang September fragte mich Ada eines Abends, was besser sei: zu wissen, dass man sterben muss oder es nicht zu wissen. Ich muss schlucken. Dann argumentiere ich: Wenn man weiß, dass jemand sterben muss., hat jeder zumindest die Chance, sich zu verabschieden... wie bei Vianne, werfe ich hinterher. Bei Jesse hatten wir dazu keine Gelegenheit mehr. Adas nachfolgende Worte erwischen mich eiskalt: "Ich habe nicht gewusst, dass Vianne sterben wird...!" Ich bin innerlich außer mir, ich bin geschockt in diesem einen Moment. Ich sage ihr, dass wir es doch unzählige Male thematisiert hätten, dass Vianne sterben wird... Dass Vianne es ihr persönlich mitgeteilt habe... Ada hat einen anderen, kindlichen Blickwinkel darauf. Sie hat an Wunder geglaubt.. Eine Gabe, die uns abhanden gekommen ist - kurzfristig. Aber jetzt - in seltenen Momenten - sehe ich sie wieder... und bin so ergriffen davon. Ich spüre - ganz tief in meinem Herzen - dass es Jesse und Vianne gut geht... und das bringt mir Seelenfrieden in diesem riesigem Ozean aus Schmerz. Ada weint momentan wieder viel - sie verarbeitet, sie ist mittendrin.. Ihr innerer Druck hat sich über Tage - Wochen - Monate - Jahre aufgebaut. Ich halte dich, du kleine Kämpferin. Versprochen!

Montag, 24. September 2018

Herbsttöne

Echtzeit! 23.09.18

Es ist Herbst. Ich bereite mich langsam auf die kalte Jahreszeit vor, werde innerlich ruhiger und besinnlicher. Wir haben heute - bei Wind und Wetter - einen herrlichen Waldspaziergang unternommen. Der Wald macht sich gerade winterfest. Er holt alle wichtigen Stoffe - Blattgrün (Chlorophyll) und Proteine - aus den Blättern, zieht all das heraus, was er über den langen Winter braucht und an das er nur schwer herankommt. Und er schützt sich: Er wirft schließlich, nachdem alles Wertvolle aus den Blättern gesaugt wurde, diese welken Überbleibsel eines langen Sommers ab. Eine Sicherheitsmaßnahme, um im Winter nicht zu verdursten, denn über die Blätter verliert er durch Verdunstung die meiste Flüssigkeit. Doch zuvor dürfen sie noch einmal kräftig aufleuchten. Die wunderschönen Farbtöne kommen zum Vorschein, weil der Baum sein Blattgrün zurückholt in Stamm und Äste, so dass die goldgelben bis tiefroten Schattierungen hervorscheinen können. Der Herbst macht auch was mit mir... durch das unwiderrufliche Entfernen meines Chlorophylls bringe auch ich neue Schattierungen hervor - und hoffe, letztendlich nicht das gleiche Schicksal wie die Blätter zu teilen. Wenn ich ein Blatt wäre, wäre das fatal. Aber ich bin der Baum und schütze mich lediglich vor gewissen (Wetter-)einflüssen: vor Frost und Kälte, Dunkelheit und Durst... Aber ohne Chlorophyll kann ich auch kein Licht mehr absorbieren und erst recht keinen Zucker mehr produzieren. Schauen wir mal, wie ich meine Winterruhe aushalte... Das nächste Frühjahr kommt gewiss...


Donnerstag, 16. August 2018

Von Ir(r)land nach Irland - 2.Teil

Echtzeit! 14.08.2018

Zitat Ada, 31.07.2018, mitten in Dublin: "Seid ihr eigentlich schon 'mal mit dem Flugzeug abgestürzt?"

Irgendwo im Nirgendwo - 3. Wegstrecke
Am nächsten Morgen holten wir unseren Mietwagen ab und kämpften uns im Linksverkehr - übrigens das erste Mal in unserem Leben - zuerst aus dem Parkhaus und anschließend aus Dublins Kreisverkehren und Einbahnstraßen heraus Richtung Connamara, einem Naturschutzgebiet an der Westküste Irlands. Dort hatten wir irgendwo im Nirgendwo ein Häuschen gemietet, dessen Lage noch nicht einmal die meisten Einheimischen kannten, denn außer der Adresse "unnamed road" hatten wir nur eine grobe Wegbeschreibung. Blöderweise hatte ich es versäumt, die Navigation im Vorfeld über das Handy herunterzuladen und kurz vorm Ziel hatten wir keinen Internetempfang mehr. Aber letztendlich konnten wir unsere Unterkunft dank der hilfsbereiten Dame im Post office in der naheliegenden Ortschaft Finny (bestehend aus Pub, Kirche und besagtem Post office) orten. 
Unser Natursteinhäuschen lag idyllisch eingebettet zwischen Wiesen und Sträuchern oberhalb eines einsamen Sees. 


Unsere direkten Nachbarn waren vier gesellige Esel, die Ada sogleich auf Rocky, Boss, Kasper und Schikalinder taufte und die unseren Karottenvorrat extrem reduzierten.


Ein Ort zum Durchatmen. Welch ein grandioser Ausblick auf die gegenüberliegende Bergkette und auf die Seenlandschaft und wenn man in die Natur lauschte, hörte man bis auf das ferne Blöken der Schafe .... nichts. Keine Flugzeuge am Himmel, kaum Verkehr auf der winzigen Straße am Seeufer.





Irland ist Schonzeit, und doch rückt dieser Tag, der mein Leben komplett aus den Angeln gehoben hat und dein Leben, mein Schatz, für immer beendete, näher. Schlimm erwischt es mich in der Nacht vom 23. auf den 24.7.2018. Es ist wieder 2015, es ist nach Mitternacht. Du hast gewartet, bis wir ganz unter uns waren, hast geborgen zwischen uns gelegen. Du erlebst noch 45 Minuten dieses 24.Juli 2015,bevor dein Herzchen ein letztes Mal flattert und sich die Stille über deinen Körper legt... Ein Teil von mir stirbt mit dir. Ich lasse dich nicht alleine fliegen... Der Teil von mir, der überlebt, ist den nachfolgenden Qualen hilflos ausgeliefert. Die seelische Amputation schmerzt sogar körperlich... 
Es ist der 23.7.2018 und ich wälze mich in Irland im Bett von einer Seite auf die andere, krümme mich zusammen, finde keine Ruhe und erst recht keinen Schlaf. Es ist doch erst 23:45 Uhr - noch habe ich dich eine Stunde bei mir, warum überfällt mich schon jetzt diese unglaubliche Unruhe? Bis mir auf einmal schlagartig klar wird, dass es in Deutschland aufgrund der Zeitverschiebung bereits 0:45 Uhr ist und du genau jetzt wieder in meinen Armen stirbst. Zum vierten Mal. Es tut kaum minder weh... Ich renne raus, in die Nacht, eingehüllt in abgrundtiefe Traurigkeit, machtlos, diesem Schmerzinferno zu entkommen. Der aufkommende Wind durchwuselt meine Haare, streicht neckend und liebevoll über meine Haut... "Mama, ich kann den Wind in meinen Haaren spüren!" Und ich kann dich in diesem Moment spüren, kleine großartige Vianne. Du bist der Wind und pustet meinen Schmerz fort. Ich stehe im Nirgendwo nachts im Wind und muss urplötzlich lächeln... während dieser kümmerliche Teil meines Herzens ganz weit wird. Tags zuvor hast du schon kleine Zeichen geschickt und uns gezeigt, dass du mit uns in Irland bist. Auf dem Weg zum Ashford Castle hat Luke einen kleinen Button am Wegesrand gefunden: "Be child cancer aware". Ja, das bin ich, Vianne. Ich tue, was in meiner Macht steht.

 Steilküsten und Fischerdörfchen - 4. Wegstrecke
Am nächsten Morgen brechen wir zu unserer nächsten Unterkunft im Süden Irlands auf, nahe Baltimore, einem kleinen, bunten und lebendigen Fischerörtchen. Auch hier wohnen wir wieder sehr ruhig inmitten eines verwunschenen Wäldchens. 





Auf dem Weg dorthin besuchen wir die Cliffs of Moher - ein rund 200 Meter hoher, steil abfallendender, acht Kilometer langer Küstenstreifen. Gewaltig und beeindruckend ist diese Steilküste, die einen so klein und unscheinbar und unwichtig werden lässt. Ich fühle mich hier befreit, wir spielen mit den Elementen und lassen uns und die letzten trüben Gedanken vom Wind hinforttragen, weit weit hinaus auf den Atlantischen Ozean. Unterwegs habe ich ein Treibholzstück gefunden. Am Abend verfasst ein jeder von uns darauf einen persönlichen Gruß an Vianne, bevor Luke es in Baltimore an einer rauen und ursprünglichen Felsküste ins türkisfarbene Wasser wirft. Wir verfolgen noch eine geraume Zeit, wie es auf den Wellen schaukelt und schließlich davongetragen wird. Am Abend schickt Vianne uns einen wunderschönen, perfekten Regenbogen.



 

 

Donnerstag, 9. August 2018

Von Ir(r)land nach Irland

Echtzeit! 03.08.2018


Vor wenigen Tagen erst sind wir aus unserem Irland-Urlaub zurückgekehrt. Es ist unser dritter Sommerurlaub zu viert und noch immer buche ich gedanklich sechs Plätze im Flieger: Reihe 19 A-C und D-F... Ironischerweise blieb der Platz neben mir im eigentlich ausgebuchtem Flieger frei. Es war Viannes Platz (Jesse wäre wahrscheinlich eh nicht mehr mit uns in den Urlaub geflogen).

Irland war für mich persönlich in diesem Jahr genau die richtige Wahl. Das Land hat mich gleichzeitig belebt und betrübt, es weckte ganz unterschiedliche, ambivalente Gefühle in mir, von süßer Melancholie bis hin zu spritziger Lebendig- und Ursprünglichkeit, mal mystisch und wolkenverhangen, mal strahlend bunt, blühend mit 50 Nuancen von grün und blau...


Ich habe dieses ursprüngliche Land unter anderem ausgesucht, um MICH zu finden. Mich! Im Spannungsfeld zwischen Jesse und Vianne und unserem jetzigen Alltag als Total-Normalo-Duchschnittsfamilie: zwei Kinder - Junge und Mädchen, mit gepflegtem Reihenhaus, Familienkutsche (ich vermisse unseren Bulli), geregeltem Einkommen... Ich mag dieses Bild nicht. Ich will meine lustig-chaotisch, revolutionäre, lebendig-turbulente und laute Familie mit vier Kindern zurück. Ich bin verliebt in uns als Großfamilie mit Jesse, Luke, Ada und Vianne. Dieses Familienbild wurde mir gestohlen - einfach so. 
Irland musste sein. Irland war mein Rettungsring. Von Monat zu Monat schlug mein Herz lauter, drängender, um mir unmissverständlich zu verstehen zu geben, dass etwas ganz und gar nicht stimmt... Das ich ausbrenne. Vor Wut... vor Schmerz.... vor Richtungslosigkeit ... vor Sehnsucht und Verlangen. Ich musste die Notbremse ziehen, auch wenn es mich dabei fast zerrissen hat. Scheiß Schicksal (oder Bestimmung oder was auch immer)! Ich habe mir dich nicht ausgesucht. Deshalb fühle ich mich für mein Handeln auch nur begrenzt verantwortlich. Was erwartest du von mir? Ich kann nicht immer stark sein. NEIN! Lass mich winselnd am Boden liegen. Lass mich Dinge tun, die ich nie für möglich gehalten hätte. Du! Du hast es heraufbeschworen. Du hast es entfacht. Wie konntest du mir, wie konntest du uns so viel rauben? Mit solch einer Brutalität. Du hast mein Urvertrauen erschüttert. Vor Irland hast du mich in die Knie gezwungen, hast mir meinen Kampfgeist geraubt, hast unbängigen Zorn in mir geschürt und mein Herz teilamputiert. Wiederholt hat Vianne mich nachdenklich und betrübt schauend gefragt, warum gerade sie erkrankt sei.... um kurz darauf wieder kichernd durch die Küche zu hüpfen und uns mit ihrem breiten Zahnlückengrinsen anzustrahlen. Seltsam. Der Krebs hat sich ausgebreitet, und der kleine Körper macht trotzdem alle Entwicklungsschritte wie Längenwachstum und Zahnwechsel mit... Wie bizarr. Und dann diese Machtlosigkeit, ihren Tod nicht aufhalten zu können -  du Arsch! Ich habe mich einige Zeit nach ihrem Tod lebendiger gefühlt als heute. Auch das hast du mir genommen. Doch ich fordere es zurück. Pah! Du-kannst-mich-mal.. Ich hatte im ersten Jahr gefühlsmäßig höhere Amplituden - ins Bodenlose ebenso wie in luftige Höhen -  doch schon eine geraume Zeit vor Irland kam ich mir eher vor wie ein Flatliner - eine konstant-gleichmäßige Linie, ohne große Ausschläge - in keine Richtung. Ich trieb ziellos umher in einem Meer widerstreitender Gefühle. Alles schien (und scheint noch immer) so verwoben, verworren und ich wusste weder, was ich empfinde noch wie ich empfinde, noch wusste ich, was meinen Schmerz und meine unbändige Wut mehr beeinflusste und mich innerlich so blockierte und am Vorwärtskommen hinderte. Auf der einen Seite sitzt ständig ein kleines geschwätziges Männchen auf meiner Schulter und flüstert mir eindringlich ins Ohr: "Hey! Niemand weiß besser als du, dass dein Leben genau JETZT stattfindet. Du dumme Kuh: Lebe endlich!!! Mach schon, los, tick-tack...Hast du es noch immer nicht geschnallt? Oder willst du weiterhin als leere Hülle durchs Leben laufen?"  Gestern habe ich den Film "I kill giants" geschaut... und er sagt alles. Leben und Sterben gehören untrennbar zusammen. Auf der anderen Schulter sitzt auch ein kleines Männschen und  flüstert einschmeichelnd: "Hey, es ist doch soweit alles gut. So eine ruhige Linie ohne große emotionale Wellen gibt doch auch Sicherheit. Dümpele weiter. Was willst du eigentlich? Finde dich mit deinem jetzigen Leben  ab. Geh kein Risiko ein. Komm, wir beide wissen, dass du nicht mutig genug bist. Musst du auch nicht sein."
Ich war ausgebrannt und innerlich zerrissen. Ein Teil meiner Persönlichkeit fast verloschen. Ich habe nur noch eine Rolle gespielt. Ich habe mich im letzten Jahr gefühlstechnisch  so sehr diszipliniert und unterdrückt, das ich immer mehr Substanz und Selbstwert verloren habe. Es kostete mich immense Energien. Ich glaube, kaum jemand hat mein Verblassen wirklich wahrgenommen...  Sogar mein Selbstwertgefühl war (und ist noch immer etwas) im Eimer. Ich traute mir noch nicht einmal mehr zu, einen öffentlichen Blogeintrag zu schreiben, zweifelte auch hier.  Doch jetzt weiß ich wieder: Diese Zeilen sind für mich, für euch, die ihr alle so sehr teilgenommen habt und noch immer teilnehmt .. und am meisten für Vianne.
Ja, ich bin noch immer gehörig im Arsch, aber Hallo! Da wird auch immer ein Stück weit so bleiben. Ich habe jedwedes Recht dazu. Aber ich habe die Sanierungsmaßnahmen auch nicht gänzlich weggeschoben. Ich bin dabei, mich neu zu entdecken, uns als Familie neu zu entdecken, auch wenn es auf diesem Weg  schmerzliche Verluste gab. Ja, es ist wahr: wenn eine Tür zuschlägt, geht eine andere auf. Aber du musst bereit sein, sie zu durchschreiten. Denn wenn du dich nicht auf diese Option einlässt, steckst du fest. Irland war für mich solch eine Tür. Mein Unterbewusstsein wusste es bereits bei der Buchung vor geraumer Zeit. Irland hat mich geerdet. 

Von Ir(r)land nach Irland - 1. Wegstrecke
Gewaltige Gewitterwolken türmten sich vor unserem Abflug in Köln am Himmel. Kurz nach dem Start kamen wir in beeindruckende Turbulenzen und der Flieger schwappte von einem Luftloch ins nächste. Während sich ein Großteil der Passagiere krampfhaft an den Armlehnen festkrallte und scharf die Luft einsog, dachte ich nur trotzig: "Na ja, wenn wir jetzt abschmieren, dann ist es in Ordnung. Vielleicht sehe ich dann die beiden wieder...was soll's ....dieses verfi.... Schicksal kann mich mal - zumindest kann es mir danach nicht mehr wehtun." Die Abstinenz von Angst war gar nicht mal so übel... Aber keine Sorge...  es war nur eine momenthafte, egozentrische Scheiß-Egal-Einstellung. Vor Irland hatte ich - ganz wider meiner Natur - nämlich irgendwann aufgehört, an Wunder zu glauben...  Es gab eine Zeit, da habe ich versucht, all' meine positive Energie durch Imagination an Vianne abzugeben... und jedes Mal hat sie dabei die Augen geschlossen, wohlig  durchgeschnauft und sich entspannt hingekuschelt, während ihr Herzchen ruhig und gleichmäßig schlug. Sie hat dieses abendliche Ritual eingefordert. Wir sind gemeinsam mit Glitzer und Einhornhaar und Aufräumkommando gegen ihren "frechen Wicht" vorgegangen... Ich habe auf diese Kraft vertraut. Und Vianne auch, das weiß ich. Also muss es an mir gelegen haben.... bei mir selbst kann ich so viel Körperliches beeinflussen. Wenn ich Schluckauf habe, kann ich ihn allein durch Vorstellungskraft innerhalb kürzester Zeit wieder abstellen. Ich weiß, dass ich es kann, auch wenn es sich seltsam und skuril  anhört. Vianne hat mich so oft gelehrt, all die kleinen Wunder hinter den Dingen zu sehen... und doch habe ich in diesem Jahr langsam aber stetig den Glauben an so viele Dinge verloren... Mein Status in 2018: Es gibt keine Wunder, es gibt keine Magie. Es gibt nur knallharte, bittere Realität und weder Sinn noch Unsinn hinter gewissen Geschehnissen. Ich zehrte lediglich von den Erinnerungen, während sie mich verzehren ...bis Irland... Ich maße mir nicht an, Dinge zu begreifen. Aber ich fühle Dinge, ich fühle dich, Vianne! Ich fühle Liebe in seiner reinsten Form, pur und glasklar... Ich will dich zurück...

Dublin - und meine Beine stehen nicht still - 2. Wegstrecke
Oh du wunderbar, lebendiges Dublin, in dem alle Einheimischen bei rot über die Fußgängerampel laufen (irgendwann habe ich mich mit Ada angepasst und mir damit einen dicken Rüffel von Micha eingefangen) und sich die Busfahrer sich auf so liebenswert-trockene Art über mich amüsieren. Nachdem wir den Flughafen verlassen hatten suchten wir den Bus Richtung City. Da wir uns nicht sicher waren, ob der vor uns wartende Bus zur O'Connell Street fuhr, fragte ich kurzerhand nach. Leider war mein Hirn noch in 11000 Meter Höhe, und leicht abwesend fragte ich den freundlichen Busfahrer, ob der Bus an der Oxford Street halten würde. Der Busfahrer schaute mich ernst-überlegend  an, während seine Augen belustigt funkelten: "Oh, I think, Oxford Street is in London."  Einen Moment muss ich ihn wohl ziemlich perplex angeschaut haben, bis bei mir der Groschen fiel, was für einen Stuss ich gerade losgelassen habe. Dann stotterte ich: Argh, sorry, I mean O'Connell Street. Der Busfahrer lachte und bejahte, während ich mich gespielt erschrocken zu Micha umdrehte und laut sagte: Oh Shit, this is Ireland, we have taken the wrong flight." Beim Aussteigen konnte es sich der Busfahrer nicht verkneifen zu sagen: "Here we are:  Oxford Street", woraufhin alle Beteiligten breit grinsen mussten. Ich liebe diese Art von Humor!

In unserem Backpacker-Hotel direkt um die Ecke von Temple Bar mit Hinterhofblick und Backsteinkamin haben wir uns sauwohl gefühlt. Wir hatten von der netten Rezeptionistin einen guten Tipp für einen urigen Pub bekommen und sind nach dem Besuch der Old Library (Ich LIEBE Bücher ... so prall gefüllt mit Wissen und Worten, Ereignissen, Phantasie, Freiheit, Unabhängigkeit und Gefühlen)

und dem Besuch des Wachsfiguren-Museums, wo wir persönlich ziemlich viel Spaß hatten 😉...




mit Guinness, Irish Stew, Live Musik und flottem irischen Stepptanz in den Abend gestartet. Ich liebe die irische Musik, sie ist so leicht, dass es einem in den Beinen juckt und man am liebsten aufspringen und und sogleich mittanzen möchte - auch wenn ich mir dabei sicherlich die Beine verknotet hätte. Gleichzeitig benetzt mich die irische Volksmusik mit einen feinen Sprühregen  bittersüßer Melancholie, ohne mich traurig zu machen.


Etliche Stunden später machten wir uns über die "Halfpenny Bridge" zurück auf den Weg in unser  Hostel ... beschwingt und müde und voller vielfältiger Eindrücke von dieser pulsierenden, liebenswerten Stadt fiel ich in unserem Vierbett-Zimmer müde ins Etagenbett - ich durfte zum Glück unten schlafen. Ich fühlte mich vom ersten Moment an, seit ich Irland betreten hatte, mit diesem Land und seinen Menschen verbunden...

 
Ich liebe die kleinen und großen Dinge, die in einem fremden Land anders sind: der Linksverkehr, das Gälische, die gesprächig-interessierten Landsleute, die Schornsteine, die Gezeiten, Bier und Cider...







Fortsetzung folgt...

Freitag, 22. Juni 2018

Samstag, 26. Mai 2018

Zeitreise

Echtzeit! 25./26.Mai 2018
"Wie geht es dir?" Diese Frage taucht immer 'mal wieder auf. Sobald sie mir gestellt wird, gehe ich in mich und veruche, eine Antwort zu formulieren. Meistens finde ich keine, die mich zufriedenstellt. Ich weiß ehrlich gesagt nicht wie es mir geht. Noch immer fühle ich mich eingehüllt in eine Seifenblase aus Surrealität. Nicht nur mein Leben fühlt sich unecht an, auch die Zeit scheint ihren Schabernack mit mir zu treiben.

Beinahe drei Jahre sind seit Viannes Tod vergangen, drei Jahre, in denen die Sonne jeden Morgen auf- und jeden Abend wieder untergeht, drei Jahre, in denen sich das Leben weiterdreht, ohne jemals wieder diesen Drive zu erlangen, den es früher, vor Viannes Tod, für mich hatte. Drei Jahre? Genauer 2 Jahre und 10 Monate. Es tut noch ebenso weh wie am ersten Tag, nur weiß ich mittlerweile ein klein wenig besser mit dem Schmerz umzugehen, mit diesem ach so präsentem, mir bestens vertrautem Wegbegleiter. Viannes Kichern: so echt und klar, als hätte ich es erst gestern gehört. Nein, es muss mindestens 2 Jahre und 10 Monate alt sein. Ist es wirklich schon so lange her, dass ich ihr Kichern in der Realität gehört habe? Ja, sagt der Verstand. Das Rad der Zeit hat sich einfach weitergedreht - ohne sie... und doch mit ihr. Mit meinen Erinnerungen und Empfindungen an sie, ohne neue gemeinsame Erfahrungen, ohne irdische Erlebnisse für sie. Sie wäre jetzt neun Jahre alt. Ich sehe Ada als Neunjährige. Ich sehe Vianne als Sechsjährige. Auch sie wäre jetzt neun Jahre alt, ebenso alt wie ihre Zwillingsschwester, lediglich sieben Minuten jünger. Doch es gibt kein Bild von Vianne als Neunjährige. Nur das Bild einer Sechsjährigen, die jetzt rein theroretisch Neun wäre, wenn dieser Scheiß-Tumor nicht ihr Leben zerstört hätte.

Werde ich mein Leben lang ihr Lebensalter in unsere Zeitrechnung übertragen? "Sie wäre jetzt 15 Jahre... 24 Jahre... 32 Jahre alt..."  Die Bilder werden immer schlechter übereinanderpassen. Sie wird nie älter werden als sechs Jahre. Nur Phantasiebilder. Wie würde sie aussehen? Würde sie Ada ähneln?
Ada, Luke, Micha und ich tragen mittlerweile viele neue und auch nachhaltige Eindrücke aus Urlaubsregionen in uns, die Vianne nie kennengelernt hat: Korfu... Zauchensee...Monte Baldo und der Gardasee...Etsch-Radweg... Vils, Verona und Venedig... das Veluwemeer...Chusdino, Sienna und weite Landstriche der Toskana...Wald im Pinzgau... Mailand...Steibis und das Blaue Haus in Oberstaufen... Grächen in der Schweiz, demnächst Irland und die französische Atlantikküste ...

... und dann sind da die Regionen, die wir in den letzten 2 Jahren und 10 Monaten aufgesucht haben, weil wir Vianne dort gewiss antreffen: Antonis Haus auf Mallorca und der Torrent de Pareis... der Achensee... unser geliebter Weilandtshof an der Ostsee, Heiligenhafen und die Milchbar in Dahme. Lübeck und Travemünde...Cuxhaven... Sylt...der Hopfensee, Füssen und der Tegelberg... Diese Konfrontationen mit der Vergangenheit sind schmerzhaft und heilsam in einem. Wir sind erst vor wenigen Tagen zurückgekehrt aus dem Allgäu. Micha und ich haben die Herausforderung einer dreitägigen Hüttentour angenommen. 
Auf dem Weg nach Füssen vor einer Woche führte uns unser Navi frühzeitig von der Autobahn ab, um einen Stau zu umfahren, und brachte uns direkt zur Uferstraße des Hopfensees. Wie ein Wasserfall prasselten unzählige Gefühle auf mich ein. Überall Vianne...
Rückblick Juni 2015.  Sie liegt am Hofensee neben mir auf der Picknickdecke, wie ein kleines, zierliches, zerbrechliches Vögelchen, noch geschwächt und blass und schmerzgepeinigt von der eben erst abklingenden, schlimmen Kopfschmerzattacke und dem schrecklichen Würgen, während ihre Geschwister auf dem Hopfensee gemeinsam Kanu fahren. Und doch umspielt ein kleines Lächeln ihre Mundwinkel. Es ist ihr letzter Urlaub...und sie spürt es...
Wir fahren mit unserem Auto weiter durch das Füssener Zentrum und passieren den Springbrunnen, aus dessen Stelen normalerweise Wasser in die Höhe sprudelt. An diesem Tag ist der Brunnen stillgelegt.
Rückblick: Vianne sitzt im Fahrradanhänger, sie genießt die Tour und lacht und jauchzt fröhlich, als wir zwischen den Stelen mit unseren Fahrrädern hindurchradeln, um uns eine kalte Dusche abzuholen. Sie weist die jammernde Ada zurecht, sie möge sich wegen der paar Wassertropfen nicht so anstellen. Ich muss grinsen.
Schließlich kommen wir an der Talstation der Tegelbergbahn an, schlüpfen in unsere Wanderstiefel und schnüren unsere Rucksäcke.
Rückblick: Direkt vor dem Eingang der Gondelstation parken wir unsere Fahrräder. Den Anhänger, umfunktioniert zum Kinderwagen, nehmen wir mit in die Gondel, damit wir Vianne Richtung Gipfelkreuz schieben können. Sie genießt die Gondelfahrt. Es ist ein guter Tag, ein trotz aller Ängste und Sorgen fröhlicher, belebender Tag - ohne Kopfschmerzen, ohne Erbrechen. Wir sind so dankbar für diese Familienzeit, diese kleine Verschnaufpause auf rund 2000 Meter Höhe, inmitten all der prächtigen Natur , inmitten der vier Kinder. Wir sind dem Himmel sehr nahe...
Es ist der letzte Tag unseres dreitägigen Wanderurlaubs. Am Nachmittag zuvor sind wir wieder am Tegelberghaus angekommen und verbringen eine schnarchig-urig-gemütliche Nacht im Bettenlager. Bereits um sechs Uhr in der Früh - die Sonne kitzelt mich zum Aufwachen an der Nasenspitze - schlüpfe ich schnell in meine Treckinghose und mache mich auf den Aufstieg Richtung Gipfelkreuz. Die Berge gehören nur mir in diesem Moment, die Natur und ich sind eins, die Sonne lacht vom zartblauem Morgenhimmel. 

 
Ich komme an "unseren" Aussichtspunkt" und breche in Tränen aus. Der Verlust ist hier besonders offensichtlich, der Fehler in diesem Panoramabild nicht zu übersehen. Vianne und Jesse sitzen heute nicht mehr auf den vor mir liegenden Felsblöcken. Lautstark lachend und zugleich tief schluchzend schreie ich der Bergwelt trotzig und voller Stolz auf meine wunderbare Tochter: "Es schneit, es schneit, der Winter ist da!" entgegen. Danach ritze ich akribisch ihre Namen in die Felsen. 
 

 Rückblick: Schweißgebadet schiebt Micha, unterstützt von Jesse, den Fahrradanhänger mit Vianne den schmalen, steinigen, holprigen Pfad hinauf, dem Gipfelkreuz immer näher kommend. Trotz der Anstrengung sind alle vergnügt, fast ein wenig befreit. Bis zum Gipfelkreuz schaffen wir es nicht mit dem Anhänger, das ist uns klar, denn die letzte Strecke ist nur kletternd zu bewältigen. Wir finden einen wunderschönen, einsamen Aussichtpunkt. Die dort liegenden Felsblöcke laden uns zum Verweilen ein und wir verspeisen genüßlich ein paar mitgebrachte Leckereien. Vianne schaut so friedlich-versunken auf die uns umgebenden Gipfel ferner Berge, tief in sich ruhend und geerdet. Mein Herz schwappt beinahe über vor Liebe und Ergriffenheit. Sie trägt ihr rosa Sonnenhütchen und eine dunkelblau gemusterte Blümchenbluse. Sie kuschelt sich auf Jesses Schoß, der sie fürsorglich lächelnd, wohlig schützend im Arm hält. Schließlich bedenkt sie uns mit ihrem wunderbaren Vianne-Grinsen, schaut uns herausfordernd an, wirft ihren kleinen Kopf in den Nacken und schreit, den Blick gen Himmel gerichtet: "Es schneit, es schneit, der Winter ist da!"


Auf unserem Abstieg zurück zur Talstation überqueren wir den idyllischen Gebirgsbach, in dem wir uns damals während unserer Fahrradtour abgekühlt hatten. Heute steht hier keine Vianne lachend im Flussbett, während ihre Geschwister einen Damm bauen oder um die nächste Flussbiegung lugen - keine Füßchen, die von dem kalten Gebirgswasser umspült werden. Scheiße! Ich bin so grausam mir selbst gegenüber, denn kurz darauf landen wir in der kleinen Alpe, in der wir uns vor 2 Jahren und 10 Monaten bei Schmalzbroten, Gulaschsuppe und eisgekühlten Getränken gestärkt haben. Die Alpe hat für uns ihren Reiz verloren...
Es ist fast drei Jahre her. Es ist erst eben passiert. Die Zeit. Sie verschwimmt. Die Vergangenheit holt die Gegenwart ein und gestaltet meine Zukunft. Doch ich habe Einfluss und gestalte mit. Und deshalb wandern wir in der Gegenwart auch abseits der Erinnerungen, gehen neue, herausfordernde, uns mal wieder beinahe an die eigene Grenze bringende steinige Wege. 
Nachdem wir die Nacht hindurch Richtung Allgäu gefahren waren, kauften wir uns kurz vorm Ziel noch etwas Wegzehrung und standen schließlich um 9:44 Uhr am Pfingstsamstag aufbruchbereit auf dem Tegelberg. Von der Bergstation aus ging unsere Tour Richtung Kenzenhütte. Laut Wanderinfo ein schwerer, rund fünfeinhalb stündiger Marsch über den Brandnerfleck und Ahornsattel auf den Niederstraußenbergsattel und weiter über den Gabelschrofensattel bis zum Kenzensattel und von dort wieder hoch bis zur Kenzenhütte, wo wir uns im Vorfeld Betten reserviert hatten. Bei strahlendem Sonnenschein ging es los. 




Wir wussten, dass das Wetter am Nachmittag in Regen und in örtliche Gewitter übergehen sollte, aber wir hatten ja ausreichend Zeit - dachten wir. Um 12 Uhr zogen die ersten dichten Nebelschwaden auf, aus leichtem Sprühregen - wir kletterten gerade die Felsen hoch - wurde kurz darauf ein stetiger Dauerregen, der sich zu einem Wolkenbruch steigerte und die folgenden vier Stunden auf uns niederprasselte. Meine Treckinghose hat sich die ersten beiden Stunden erfolgreich gegen den Wassereinbruch gewehrt, doch in den letzten beiden Stunden lief mir das Regenwasser die Beine hinab.


 Auf rund 2000 Meter Höhe erwischte uns das Gewitter. Blitz, 21, 22 und ein ohrenbetäubender Knall, der einen ohne groß nachzudenken in die Hocke gehen ließ. "Nun ja", dachte ich mir, "die Gämsen werden auch nicht alle naselang von einem Blitz herniedergestreckt", also schritt ich weiter wacker voran. Das Gipfelkreuz war zum Greifen nah. Doch die Vernunft siegte. Wir sahen in der Ferne eine dreiköpfige Truppe, die sich vom Grat entfernte und einen Trampelpfad nutzte, der etwas weiter ins Tal führte. Sie wollten ebenfalls zur Kenzenhütte und folgten einem Weg abseits der Gipfel. Wir folgten erst einmal ... und kamen dadurch blöderweise von unserer geplanten Route ab. Ich gebe es zu: wir hatten uns die Wegstrecke  (ohne Alternativroute) sowie den entsprechenden Kartenausschnitt  lediglich aufs Handy geladen, und das gab im Dauerregen seinen Geist auf. Empfang hatten wir sowieso die ganze Zeit keinen. Gemeinsam setzten wir unseren Weg fort. An der nächsten Weggabelung fanden wir Hinweisschilder mit zwei möglichen Routen zur Kenzenhütte. Die drei Wanderer beratschlagten noch, wir entschieden uns für die Tour durch das Fensterl. Aber der Weg war durch ein großes Schneefeld blockiert, welches das Halteseil unter sich begrub. Das wir keine eigenen Seilsysteme dabei hatten und der Hang unter uns steil abfiel, entschieden wir uns gegen diese Route. Meinem Bauchgefühl vertraue ich in diesem Fall sehr gerne. Also zurück zur Gabelung. Route 2 ging über die Hochplatte auf über 2000 Meter, blöd war nur, dass das Gewitter noch immer tobte. Die Wandergruppe - Frank, Markus und Agathie entdeckten auf ihrer Karte eine dritte Route weiter südlich, die nicht über die hohen Gipfel führte. Also nahmen wir diese. Wir schritten einiges schneller voran als die drei anderen und waren bald außer Sichtweite. Es war schwer, die Wegmarkierungen zu finden, denn auch auf dieser Route blockierten abschnittsweise einige Schneebretter den Weg und die Wanderzeichen. Wir verliefen uns blöderweise noch ein Mal und mussten nach 15minütiger Kraxelei wieder umkehren, aber nach siebenstündiger Wanderzeit kamen wir schließlich pitschnass, durchgefroren aber sehr zufrieden auf der Kenzenhütte an und wärmten uns erst mal innerlich mit einem Haselnussschnaps. Die Hütte war urgemütlich. Von unserer Ausrüstung waren nur noch eine Hose und ein Oberteil trockengeblieben, aber das reichte ja. Den Rest trockneten wir in der hauseignen Trockenkammer - Sauna mit Wandersocken-Aroma. Nach einer heißen Dusche - die Duschmarke für Warmwasser wurde von mir bis zur allerletzten Sekunde ausgenutzt - stärkten wir uns bei einem deftigen Abendessen und fielen noch vor 22 Uhr in unsere Betten. 



Am nächsten Tag verliefen wir uns natürlich auch wieder und suchten querfeldein, durch ein ausgetrocknetes Bachbett und tapfer über einen steilen Berghand kletternd unseren Weg zurück zur Tegelberghütte, wo wir im Bettenlager übernachteten. Dieses Mal waren wir dem Regenschauer zuvorgekommen.





Später am Abend wurden wir mit einem traumhaften Ausblick und weichen Abendlicht bedacht.



und am letzten Wandertag strahlte wir mit der Sonne gemeinsam um die Wette.