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Samstag, 26. Dezember 2020

Die Zeit ist reif...

 Ihr Lieben, es wird Zeit.... sich an dieser Stelle zu verabschieden....



Herrscher der Zeit

Kennst du die Sage vom Herrscher der Zeit? 
Grassierend bis in die Ewigkeit.
Die Stunden,Monate und etlichen Jahre,
Stellst du die Zeit denn niemals in Frage?
 
Begleiter über luftige Berge.
Gefährte in das Land der Zwerge.
Gefangen in der Norm der Menschen,
Gatter, Zäune, Hürden, Grenzen
 
Magst du die Zeit vohl gern bezwingen,
mit ihr gar um die Stunden ringen
den Ablauf der Zeit zu zählen beginnen,
und die Zeit so wahrlos nutzlos verbringen?
 
Dann bist du auf dem falschen Wege
Gradwanderung über schmale Stege
auf dem du dir selber im Wege stehst
und gehetzt durch dieses Leben gehst
 
Genieße Sonne, Regen, Zeit
in deiner eigenen Ewigkeit
wandere vorwärts und zurück  
Gehe durch die Dimensionen
auf dem Weg zum eigenen Glück 
(Ich, 1996) 

Wundersame verquere Zeit, wie unterschiedlich du empfunden wirst, wie sehr du unser Leben prägst, wenn nicht sogar bestimmst, und wie stark du in uns und unserem Wortschatz verankert bist...

"Die Zeit heilt alle Wunden" - "Lass dir Zeit" - "Es wird Zeit" - "Zeitlebens werde ich an dich denken" - "Du hast keine Zeit mehr" - "Hast du mal wieder die Zeit vergessen?" - "Das ist zeitlos" - "Spar dir deine Zeit" - Hast du kurz Zeit?" - "Deine Zeit ist abgelaufen" - "Ich brauche noch etwas Zeit" - "Kommt Zeit, kommt Rat" - "Nimm dir die Zeit, die du brauchst" - "Wir hatten eine tolle Zeit" - "Beeil dich, wir haben keine Zeit" - "Die Zeit ist nicht spurlos vorüber gegangen"...

Wie sehr du manchmal Schmerzen zufügst und zu welch immenser Freude und Dankbarkeit du andererseits beiträgst. Du bist Dieb und Wohltäter in einem, Zeit. Du bist gnadenlos und gönnerhaft. Ich liebe und ich hasse dich zugleich. Du hast Vianne und mir Zeit gestohlen. Und du hast mir Zeit gegeben, wieder aufzustehen. Auch kannst du mir die Zeit mit Vianne nicht nehmen - außer vielleicht, wenn du mir in Zukunft meine Erinnerungen nimmst ...?  Du faszinierst mich und du stößt mich gleichzeitig ab. Ich glaube, ich habe noch eine Rechnung mit dir offen. Wer hat dir erlaubt, Viannes und meine gemeinsame Zeit zu beenden? Ich hätte so gerne mehr Zeit mit Vianne zusammen verbracht - glückliche, unbeschwerte, luftigleichte Momente. Du hast mir Vianne entrissen, hast Viannes Zeit hier ablaufen lassen, du verdammter Bastard - und warst andererseits so gnädig, sie nur kurz leiden zu lassen."Mama, muss ich wirlich bald sterben?" Genau das hat mich Vianne im Frühjahr und Sommer 2015 wiederholt gefragt. Und mit Nachdruck gesagt, dass sie nicht sterben möchte. Es ist nicht fair! - Nein!, es ist geradezu pervers, dass eine Sechsjährige, eine Sechsjährige, die noch nicht einmal Zeit gehabt hat, ein Schulkind zu sein, die noch nie einen Jungen geküsst und dabei Schmetterlinge im Bauch gehabt hat, die niemals die Nächte durchtanzt und Paris gesehen hat, so etwas äußern muss. Nicht fair... Kannst du überhaupt fair sein, Zeit? Ich erinnere dich nur an die Sache mit der Eintagsfliege oder den Falten. Wer gibt dir das Recht, dass du Entscheidungen von solch einer Tragweite treffen darfst? Wer?

Mit der Zeit ist es so eine Sache. Auch wenn sie objektiv messbar eine definierte Spanne umfasst, wird ein jeder diesen definierten Abschnitt anders empfinden. Sicherlich auch die Eintagsfliege. Aus Stunden können Tage werden, aus Tage Wochen, und ein ganzer Tag kann zu wenigen Stunden zusammenschrumpfen. Zeit ist also etwas Dehnbares. Sind wir glücklich oder ist etwas spannend, vergeht die Zeit wie im Fluge. Tun wir etwas Ungeliebtes oder erwarten wir sehnsüchtig etwas, kriecht die Zeit im Schneckentempo vorwärts. 

Als Viannes Metastasen wuchsen, rann uns die Zeit förmlich durch die Finger. Und doch hatten wir gehofft, mehr Zeit zu haben.. Als Vianne vor Freude quietschend gemeinsam mit ihren Geschwistern durch das schlammige Watt rannte, kein Matschloch ausließ, in das sie sich hineinplumpsen lassen konnte und dabei kicherte, was das Zeug hielt, hätte ich die Zeit so gerne angehalten. Heute klammere ich mich an die Zeit, als wir im Sommer 2011 zu sechst mit unserem Bulli durch Frankreich fuhren und mit unserem pinkfarbenen Familien-Schlauchboot durch die Verdon-Schlucht paddelten. 

Ich glaube aber auch, dass man fühlt, wenn die Zeit gekommen ist. Eine gefühlte Ewigkeit - seit dem Sommer - habe ich in Viannes Blog keinen einzigen Eintrag mehr verfasst und mich intensiv gefragt, warum eigentlich nicht. Noch immer fließen die Worte aus mir heraus, ich bin also nicht sprachlos. Noch immer kreisen meine Gedanken um meine Tochter: Ich habe sie also nicht vergessen. Noch immer empfinde ich unbeschreibliche Sehnsucht, wahnsinniges Glück, innige Liebe, bodenlose Trauer, wahre Demut und tiefen Respekt, sobald ich an sie denke. Ich bin also nicht emotional taub. Was ist es dann? Die Zeit ist einfach reif. Ich durfte sechs Jahre mit meiner zauberhaft inspirierenden und gewieft-herausfordernden Tochter erleben. Ich habe nun fast sechs Jahre ohne Vianne an meiner Seite verbracht und ihr habt mich auf meinen Weg treu begleitet. Mein Weg geht hoffentlich weiter, aber dieser Blog ist am Ende angekommen. Ich kann euch nichts Neues von Vianne erzählen. Ich kann euch nichts Neues von mir erzählen. Es war eine intensive Zeit hier mit euch zusammen. Danke dafür. Von Herzen Danke für euer Zuhören, Begleiten und Mitfühlen.

Süße Vianne, ich geh' mit dir, soweit ich kann. Und nun ist es an der Zeit, dich weiterziehen zu lassen. Die Zeit ist reif, mein Schatz. Wie würde es Ada ausdrücken: "Ich hoffe, du springst gerade mit einem Rentier durch die Wolken..." 

 Ich bin so tief durchdrungen von Vianne, dass meine Liebe zu ihr ewig in mir weiterlebt, weit über diese Blogeinträge hinaus, mindestens solange ich atme - und wer weiß - vielleicht auch noch darüber hinaus...


 Danke Zeit, für diese Zeit - und für all das Kommende, das sich zu entdecken lohnt.
"Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft zu leben..."
 (aus: "Stufen" von Hermann Hesse)