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Freitag, 3. November 2017

Ab wann....?

Echtzeit! 03. November 2017

Es ist nach Mitternacht - ich komme gerade vom Tanztraining mit meinen Freunden, die mir wie immer so viel Leichtigkeit und Bodenhaftung mit auf den Weg geben. Sie tun so gut und ertragen mich pur. Auch nach über zwei Jahren ist mein Herz noch immer so schwer, dass mich neben all meiner Lebendigkeit unverhofft solch eine Schwermut überfällt und mich hin und wieder zu überfordern scheint. Mein rechtes Augelid zuckt seit ein paar Wochen... Ich habe keine Ahnung warum. Posttraumatische Belastungsreaktion?? Stress??? Langzeitfolgen??? Keine Ahnung. Ist mir irgendwie auch scheißegal. Bin ich trauriger als vor einem Jahr? Als vor zwei Jahren? Diese Frage stelle ich mir in letzter Zeit immer häufiger. Ich bin nicht trauriger - nur müder - streckenweise, denn es gibt immer noch so viele Dinge, die mich kitzeln, herausfordern, ergriffen machen. Also ist diese partielle Müdigkeit noch nicht besorgniserregend. Noch immer bin ich auf der Suche. Wenn ich nur wüsste, wonach? So weit hat sich mir mein Unterbewusstsein noch nicht offenbart. Ich weiß nur, dass diese Suche kräftezehrend und - weil eben nicht zielgerichtet - unbefriedigend ist. Wonach suche ich??? Nach der Sinnhaftigkeit? Verläuft unser Leben in vorbestimmten Bahnen? Habe ich Einfluss? Gibt es eine Welt hinter unserer Welt? Is it right or is it wrong...? Was ist richtig? Was ist falsch? Wo verlaufen die Grenzen ...der Ehtik...des Gewissens... wie ändern sich Verhaltensweisen im Kontext zur jeweiligen Epoche. Ich lese mich in so viele Fachgebiete ein, probiere Zusammenhänge zu erkennen, zu begreifen, so oft zerrissen zwischen Hoffnung und Niedergeschlagenheit. Manche Lebenswelten sind mir so fremd geworden, insbesondere diejenigen, die eine subjektive Sicherheit fordern, die genaue Zeitabläufe und Planungen benötigen, um ein Wohlgefühl zu haben. Es - gibt - keine - Sicherheit, meine Lieben. Sicherheit ist subjektiv und findet einzig und allein in euren Köpfen statt. Und doch seit ihr, die ihr so empfindet, in einer beneidenswert komfortablen Situation... 
In der ersten Herbstferienwoche bin ich spontan mit Ada nach Sylt gereist dank einer unverhofften Einladung einer lieben Freundin. Eigentlich war geplant, die Ferien - ich hatte eine Woche Urlaub - zuhause zu verbringen. Luke freute sich wahrhaftig darauf, einmal nicht wegzufahren. Welch Klage auf hohem Niveau. "Oh nein, nicht schon wieder ein Urlaub!" Ich folgte seinem Wunsch und machte mich also nur mit Ada auf den Weg. Ich liebe spontane Aktionen und bin meistens dafür zu haben, deshalb hielten mich auch weder der lange Freitagabend noch der bis in die frühen Morgenstunden durchfeierte  Samstag davon ab, am nächsten Morgen ein paar Sachen in die Koffer zu werfen und gen Norden zu reisen. Sylt! Welch Erinnerungen hängen an dieser Insel. 2013 waren wir dort - zu sechst - zur Familienreha. Wie frei und unbeschwert wir waren in dem Glauben, das Ependymom besiegt zu haben. 2015 war ich mit meiner Uli dort, die so stark an meiner Seite stand. Sylt als Flucht nach Jesses Tod. Sylt als Seelenbalsam mit seinen Farben und Naturgewalten. Sylt als Abstandhalter. 2017: Sylt als Luftblase. Zum Durchatmen. Raumgebend für Gedankengänge. Ada ist zum Glück eine unkomplizierte, wohltuende und experimentierfreudige Reisegefährtin, ausgestattet mit einer wunderbaren Sensibilität und purer Lebensfreude. Wir waren mit Kathrin, Lilli und ihren Brüdern auf der Insel. Lilli war Viannes Freundin (und wurde später auch zu Adas Freundin), wir hatten uns in der Kinderklinik kennengelernt. Als wir 2013 zur Reha auf Sylt waren, verbrachten Kathrin und Lilli parallel ihren Urlaub auf der Insel und wir trafen uns, aßen gemeinsam Crepes, tobten über den Strand und die Spielplätze, besetzten ein Kinderkarussell, kicherten, lachten, beobachteten die Fische im Meeresaquarium. 2017: die gleiche Konstellation, aber keine kichernde Vianne unter uns -  welch Gefühlssturm, welch Schmerz, welche Sehnsucht. Ab wann darf man nicht mehr traurig sein??? Ab wann geht dein Umfeld davon aus, dass du dich mit deiner neuen Lebenssituation arrangiert hast?? Keine Ahnung. Ich werde für den Rest meines Lebens diese abgrundtiefe Traurigkeit empfinden.  Ich sehe Sylt und liebe die Insel. Ich sehe Sylt und trauere. Ich sehe Sylt und fühle mich lebendig. Ich sehe Sylt und vergehe vor Sehnsucht. Es gibt so viele Farbabstufungen in meinem Leben, auch wenn ein Teil immer schwarz und abgestorben bleiben wird.
Am vorletzten Tag habe ich mit Ada einen langen Strandspaziergang unternommen. Die Wellen umspielten unsere Gummistiefel. Während wir so daherschlenderten, hielt Ada plötzlich inne. Eine Welle hatte ihr eine wunderschöne Muschel vor die Füße gespült. Einfach so. Außergewöhnlich. Anders. Scheinbar aus dem Nichts kommend. Ada schaute mich mit leuchtenden Augen an. "Mama, die hat mir Vianne geschenkt... und dieser kleine Schlingel hat auch immer die Wellen in meine Gummistiefel schwappen lassen."