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Sonntag, 23. Juli 2017

In meinen Armen...

Heute Nacht stirbst du erneut in meinen Armen und ich werde dich bis zum Morgengrauen ganz fest halten, dich bis zu deinem letzten Atemzug und dem letzten zarten Flügelschlag deines kleinen Herzens begleiten - und noch darüber hinaus. Ein Teil von mir ist mit dir gegangen, beschützend an deiner Seite, begeistert von deinem Kichern, ewig verliebt in deinen Blick. Und ein Teil von dir ist bei mir geblieben, nur leider kann ich ihn nicht immer wahrnehmen vor Trauer und Wut. 
Es tut auch nach zwei Jahren noch so weh und ich habe begriffen, dass es nie aufhören wird, wehzutun, weil ich nie aufhören werde, dich zu lieben, weil mit jedem Tag, den ich dich auf dieser Welt suche, meine Sehnsucht nach dir, nach uns, wächst. Nach wie vor ist es für mich nicht fassbar, dass du, dass ihr nicht mehr da sein sollt. In Gedanken streiche ich durch deine kurzen Wuschellocken, spüre deine Ärmchen um meinen Hals und deinen skeptisch-neckenden Blick auf mir ruhen. Ich höre dich begeistert jauchzen, während der Wind durch deine Haare weht, sehe dich gemeinsam mit Ada und den Steckenpferden über die löwenzahngelbe Wiese galoppieren. Du bist Elfe, Hund, Forscherin, Ballerina, Einhorn, Gespenst an einem einzigen Tag. 

Du zeigst mir, wie der Regen riecht und wie spannend ein kleiner grüner Grashüpfer sein kann. Bei dir bekomme ich sofort unstillbaren Hunger, wenn du emsig-ernst-akribisch deine Matschepampe-Blumensuppe zubereitest. Mit dir gemeinsam springe ich lachend in die dreckigen Pfützen und ein warmes Lächeln stiehlt sich auf meine Lippen, wenn ich dich dabei beobachte, wie du mit schelmischen Blick Vitas Katzenfutterstückchen im Wasser aufweichst, damit sie sie leichter futtern kann (und weil es dir einen tierischen Spaß bereitet, so herumzuschmieren). Ich genieße es, wie du dich ganz eng und duftend nach dem Baden an mich schmiegst, nachdem ich dich unter lautem Protest aus der Badewanne geholt habe, und du in unzählige Handtücher gemuckelt auf meinem Schoß wie ein "zusammengeschnürtes Paket" liegst und kicherst. "Ich bin ein Päckchen, Mama!" Schüchtern und doch schelmisch um die Ecke lugend hast du die Ärzte und Schwestern für dich eingenommen, du warst zerbrechlich und zäh in einem und hast wie ein Rohrspatz geschimpft, wenn es 'mal nicht nach deiner Stupsnase ging. Nur wenige Tage nach deiner schweren OP am Spinalkanal hast du es dir nicht nehmen lassen, mit Ada zusammen auf unserem Wohnzimmerteppich einen Tanz einzustudieren, den du dann, zwar noch in Schonhaltung wegen der schmerzenden Narbe im Nacken, voller Elan und stolz präsentiert hast. Du hast dir deine Welt gemacht, so wie sie dir gefällt. Wenn du nicht schwimmen durftest, hast du dir das Hallenbad ins Wohnzimmer geholt und bist in die tiefen des Teppichs abgetaucht. Wenn kein Schnee lag, du aber Skifahren wolltest, hast du kurzerhand die Holzeisenbahnschienen zu Skiern umfunktioniert und bist mit ihnen über den Fußboden geglitten.



Ich weiß noch, als du im Auto mit Ada "AA follow" lauthals geträllert hast (statt "I follow"), woraufhin Jesse und Luke lachend unter der Rücksitzbank lagen. Und ebenso begeistert hast du mit Adel Tawil "Lieder" gesungen und warst ein Feuerstarter und ein rollender Stein. Wie erhaben du mit der Eiskönigin und "Lass jetzt los" am PSI in der Schweiz in die Sedierung geglitten bist.
Ich weine um all die verpassten zukünftigen Momente mit dir und finde aktuell keinen Weg, wie ich das Glück wieder hereinlassen kann in mein Leben... Noch nicht!
Ich habe meine Rolle nur noch nicht gefunden. Es ist zu still geworden ohne dich und Jesse. Das chaotisch-turbulente Leben als Familie mit vier eigensinnigen Kindern fehlt mir so wahnsinnig, mit all den zum Teil anstrengenden, aber ebenso auch lustigen und tief berührenden Momenten. Ihr Kinder fehlt euch auch untereinander: kein adäquater Streitpartner, keine Schwester, mit der man sich die lustigsten Sachen ausdenken kann, kein vertrauter Geheimnisträger mehr... niemand mehr für Ada, mit dem sie so auf einer Wellenlänge lag wie mit Vianne. 
Heute Nacht stirbst du erneut in meinen Armen... und ich werde wieder bei dir sein... Lass mich dich weiterhin spüren!

Montag, 10. Juli 2017

Auf der Suche

Zitat Ada (grinsend), 14. Juni 2017 - wunderschöne Wolkenschleier am Himmel: "Mama, ich stelle mir gerade vor, dass Vianne dort oben zusammen mit einem Mädchen , das so aussieht wie ich, den Himmel anmalt."

Ada sucht nach wie vor nach Vianne, und ich kann ihr nur bedingt bei ihrer Suche helfen, indem ich ihren Blick auf ihr Herz lenke, in dem Vianne so eng verwoben weiterlebt. Andererseits hat Ada die kindliche Gabe, ganz intensiv am Leben teilzunehmen, trotz der schlimmen Erlebnisse. Wie viel sie mir da voraus hat.... Erst kürzlich hat sie bei dem wunderschön inszenierten afrikanischen Kinder-Musical "Kwela Kwela" mitgewirkt: als Giraffe.

Sie war so herrlich aufgeregt und motiviert vor den Auftritten, tanzte und sang durchs ganze Haus und ließ die gesamte Familie an ihrer Vorfreude teilhaben. Ich saß gemeinsam mit Oma und Opa, Luke, Andi und Ralf im Publikum, war gerührt von der kindlichen Ernsthaftigkeit, mit der alle Mitwirkenden bei der Sache waren, gepaart mit unverfälschter Freude und Leichtigkeit - und ich hatte Tränen in den Augen: voller Stolz (auf Ada) und voller Sehnsucht (nach Vianne). Wo war die andere Giraffe??? Vor meinem geistigen Auge sah ich Vianne freudig-aufgeregt neben Ada singen und tanzen. 
In zwei Wochen kommt der Tag, an dem sie gestorben ist... es ist schon wieder Juli...zwei Jahre ist es nun bereits her. Ich stehe noch immer wie in Trance zwischen den Gräbern und kann die Wirklichkeit nicht begreifen.

Ja, die (Schmerz-)Wellen sind nicht mehr so gigantisch hoch wie in der ersten Zeit, als sie mich gnadenlos überrollten und ich mich verzweifelt, nach Luft schnappend, an die Oberfläche zurück kämpfte. Doch auch wenn die Wellen damals höher waren und auch wenn ich teilweise tief abgetaucht bin, fühlte ich mich insgesamt irgendwie lebendiger, kraftvoller, trotziger. Denn nach einem reinigenden Sturm warf kurz darauf die Sonne ihre wärmenden, gelben Strahlen auf die azurblau leuchtende Wasseroberfläche. Seit Wochen ist die See um mich herum eher braun und kabbelig - die Wasseroberfläche ist permanent unruhig, beeinflusst durch Wind, Seegang und Wasserströmungen, die aus verschiedenen Richtungen aufeinandertreffen. Keine extremen Wellenbewegungen, nur gleichmäßige braune Brühe. Ausdauer und Stillstand waren noch nie meine Stärke. Das ist anstrengend und zehrt mich aus. 
Bewusst registriert habe ich diesen mentalen Zustand anhand meiner anhaltenden Müdigkeit. Und auch die letzten Kurzurlaube und Alltagsauszeiten hatten nicht mehr so die erwünschte Wirkung auf mich wie im vergangenen Jahr. Über den ersten Mai haben Micha und ich einige Tage - ohne die Kinder -  am Gardasee, in Bergamo und Mailand verbracht. Wir kamen im Nieselregen bei 8 Grad Celsius in Mailand an, stritten uns kurzzeitig und erst in Bergamo konnte ich die Schönheit der Umgebung wahrnehmen. Ich brauchte die siebenstündige Wanderung - 1200 Höhenmeter rauf auf den Monte Baldo und wieder runter (plus zweistündige Gipfelpause mit Olivengrappa und Käsekuchen), um mich annähernd lebendig zu fühlen. 



Am Abflugtag schauten wir uns noch Mailand an - ich war vor einigen Jahren schon einmal dort gewesen und blickte damals bei strahlendem Sonnenschein vom Dach des Mailänder Doms über die Stadt. Doch dieses Mal deprimierte mich die große Stadt. Es goss wie aus Kübeln, Donner grollte, ich fror, die vielen Menschen um mich herum stressten mich. Irgendwann brach ich in Tränen aus und konnte kaum aufhören. Erst als ich bis aufs Hemd durchnässt, mit triefenden, angeklatschten Haaren zitternd in einer Bar vor einem heißen Milchkaffee saß, löste sich ein Teil der Schwere - wenn auch nur ein winzig kleiner.
Auch während der wunderschönen Hochzeitstag-Feier von engsten Freunden in Travemünde saß ein dicker Sack voller Schwermut auf meinen Schultern. Ich bin stark und konnte ihn tragen, aber lieber hätte ich mir für mich mehr Unbeschwertheit gewünscht, insbesondere da die Rahmenbedingungen (meine Familie um mich, ein wunderbarer Anlass, liebe Menschen, eine großartige Feier, Meer, majestätisches Hotel, wohlschmeckende Speisen und Getränke) so stimmig waren. Insbesondere in Lübeck fühlte ich mich wie in Watte gehüllt: das letzte Mal waren wir mit allen Kindern vor Ort, wir hatten mit Vianne einen EEG-Termin beim Neurologen, weil wir ihre Symtome nicht zuordnen konnten. Aber es war damals ein fröhlicher Tag, weil uns der Neurologe erst einmal beruhigen konnte  und wir noch nichts von der schrecklichen Krankheit wussten. Auch am letzten Tag am Strand in Travemünde schlichen sich zeitweilig wieder Bilder aus der Vergangenheit in den Vordergrund, denn kurz nach Adas und Viannes Geburt hatte ich Uli und die Kinder mit den gerade einmal drei Monate alten Mäusen, zusammen mit Jesse und Luke besucht und wir verbrachten einen ausgelassenen Tag am Travemünder Strand. All diese Erinnerungen drückten auf meine Seele. Und dann - urplötzlich - klarte (endlich) auf der Rückfahrt von der Ostsee mein innerer Himmel auf: während Micha, Luke, Ada und ich die Gegend an uns vorbeiziehen ließen, zeigte sich auf einmal ein doppelter! Regenbogen am Himmel - ein stiller Gruß von Jesse und Vianne. Wie oft wir nach ihrem Tod schon einen doppelten Regenbogen erblicken durften... immer im richtigen Moment... für mich ist das kein bloßer Zufall. Von einer Minute auf die andere ging es mir gut, löste sich der Sandsack auf meinen Schultern in Wohlgefallen auf - wie immer, wenn wir die Regenbögen sichten.
Erst vor zwei Wochen war ich mit meinen "Liebesperlen" auf Wochenend-Tour am Steinhuder Meer - wohltuend, lustig, vertraut wie immer. Doch auch hier merkte ich Schwermut und Müdigkeit, war meistens eine der ersten im Bett, musste mir einen Abend den Druck beim Joggen am See von der Seele rennen, um einen klaren Blick zu kriegen. Ich fühlte mich auch dort innerlich oftmals wie betäubt, trotz Segway-Tour, witzigen Spielchen und Freunden um mich herum. 
In ihrer kindlichen Welt ist Ada auf der Suche nach Ersatz für Vianne. "Mama, Antonia sieht mir doch mit den blonden Haaren so ähnlich - sehen wir nicht aus wie Schwestern - wie Zwillingsschwestern?", fragte sie mich mit einem flehenden Unterton in der Stimme. "Kann sie nicht vielleicht bei uns einziehen?", setzte sie nach. Es tut mir so leid für sie!!! Sie verarbeitet gerade viel, denkt momentan im Alltag vermehrt an Vianne. Jeden Abend muss ich ihr ein Lied vorsingen, in dem auch Jesse und Vianne vorkommen. Sobald ich es anstimme, merke ich, wie sich ihr kleiner Körper merklich entspannt, wie sie zur Ruhe kommt. Obwohl sie hin und wieder, zum einen durch meine Arbeit, aber auch durch die Krankenhauszeit von Vianne, mit Menschen mit Krebserkrankung in Berührung gekommen ist und sie zum Glück auch gar keine Berührungsängste hat, hat sie letztens ein Kinder-Hörspiel, das sie bei einer Freundin gehört und das auch etwas mit einer Krebserkrankung zu tun hatte, völlig aus der Bahn geworfen. Sie konnte gar nicht mehr aufhören zu weinen und sagte immer nur, dass sie glaube, dass der Krebs Vianne weh getan hätte... Wir kuschelten uns zusammen in ihr Bett, wobei ich sie ganz fest in meinen Armen hielt, bis die letzten tiefen Schluchzer verebbten. Ich weinte still mit ihr. Anschließend machte ich ihr einen leckeren, wärmenden Spezialkakao mit Zimt und Honig (und einer Geheimzutat: ein voller Löffel Liebe und Zuversicht, die ihre Wirkung entfalteten). Erst vor kurzem auf dem Weg ins Freibad sprach Ada erneut mit mir über Vianne: "Weißt du eigentlich, dass ich mit Vianne immer am liebsten gespielt habe. Mit ihr konnte ich am besten spielen. Sie hat sich immer geärgert, wenn ich ihr was weggenommen habe. Und dann war sie einfach nicht mehr wütend und sie hat sogar daraus ein Spiel gemacht." Nur eine Woche später: Ada macht Hausaufgaben, sie muss die Wörter immer zwischen den doppelten Mitlauten trennen. Während ich ihr die Aufgabenstellung erkläre, sage ich - ganz in Gedanken vertieft und mehr zu mir selbst,  dass die doppelten Mitlaute wie Zwillinge seien, die getrennt werden. In dem Moment, als ich es ausgesprochen hatte, war ich wie versteinert. Wie blöd von mir, wie unbedacht. Was für ein dämlicher Vergleich. Ada schaute mich traurig-nachdenklich an und meinte: "Ja, wie Vianne und ich: eine im Himmel, eine auf der Erde." 
Ich glaube, dank Ada komme ich so langsam aus meiner inneren Starre wieder heraus. Letzten Mittwoch, während Micha und Luke wakeboarden waren, verbrachten wir beide einen "Mädelstag". Wir unternahmen gar nichts Großes, liefen lediglich barfuß über Feld und Wiese, schlugen Räder, stupsten Grashüpfer an, kullerten einen seichten Hügel hinab und machten einen Wettbewerb daraus, wer am Geschicktesten mit den Händen die unzähligen kleinen weißen Falter fangen kann. 

Wir ließen sie natürlich sofort wieder frei. Doch ein Falter in Adas Handinnenflächen wollte gar nicht wieder wegfliegen. Sorgsam trug sie ihn zu der kleinen Anhöhe, sprach behutsam zu dem Falter in ihrer geöffneten Hand, dass er von dem Hügel aus noch viel weiter fliegen könne. Dann flüsterte sie ihm zu: "Flieg hoch in den Himmel und sag Vianne von mir, dass es mir gut geht." Sobald sie das letzte Wort ausgesprochen hatte flog der kleine, weiße Falter los...