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Montag, 5. Juni 2017

Zweigeteilt

Brief von Oskar aus Schweden, Juli 2015: 
"Liebe Vianne! Ich war in der Astrid Lindgren Welt, habe in Pippi Langstrumpfs Haus getobt, war bei Michel (der hier Emil heißt) zu Hause und habe beim Pfannkuchenbuffet mir den Bauch voll geschlagen!! Liebe Grüße von deinem Oskar

Nachdem alle mir wichtigen Dinge wie die Durchführung der PSAPOH-Tagung und der Lesung hinter mir lagen, fiel mir nach der ersten Euphorie des Geschafften die Rückkehr in den weniger arbeitsintensiven Alltag, unterbrochen von diversen Feiertagen und Frei-Zeiten, arg schwer und meine Gedanken wanderten immer wieder wehmütig zu Vianne (und Jesse - aber das ist ein anderer Blo(g)ck 😏). Eigentlich sollte ich mich doch entspannt zurücklegen können, genießen, weil ich für mich Wichtiges erreicht habe und weil nun wieder mehr Zeit für die Familie bleibt und das Wetter aktuell so sonnig-warm ist. Geht aber nicht. Warum kann ich nicht Ada und Luke an und mein Leben in die Hand nehmen und meinen Kindern und mir und Micha eine unbeschwerte Zeit gönnen??? Weil nichts mehr in meinem Leben unbeschwert ist. Weil über allem ein großer, schwerer Schatten schwebt, der umso größer ist, je kräftiger die Sonne scheint. Weil ich den Vergleich habe. Weil das Leben mit vier Kindern bunt und lustig, chaotisch und hektisch, herrlich lebendig, laut und UNBESCHWERT war... weil alle, aus denen mein Herz zusammengesetzt ist, da waren. Weil mein Herz immer noch amputiert ist und auch immer amputiert bleiben wird... EGAL was ich auch immer tue. Verdammt! Ich kann mich schon selbst nicht mehr hören. Immer und immer wieder die gleiche Leier  Wenn ich diese Zeilen überfliege könnte ich mich dezent übergeben. 
Vorgestern Abend habe ich mir ein altes Video von uns sechs angeschaut: Ich kam ungekämmt und verschlafen morgens die Treppe zum Wohnzimmer hinunter, Ada und Vianne - vielleicht gerade 1 Jahr alt - nahmen das Wohnzimmer auseinander, Micha filmte, die Jungs lagen noch in ihren Betten. Als er sein Smartphone auf mich schwenkte, habe ich mir erst mal ein Buch vor's Gesicht gehalten, weil ich so zauselig in meinen Schlabberklamotten aussah. Und doch haben wir so herzhaft lachen müssen, während Ada und Vianne ihre kleinen Köpfchen an unsere Beine schmiegten. Unbeschwert...!  Die Zwillinge sind anderthalb Jahre alt, wir fliegen mit vier Kindern nach Valencia, von dort aus geht es weiter nach Denia - erst einmal ohne Mietwagen, aber mit einer ganz großen Portion Entdeckerlaune. Unsere kleine Finca liegt in einem riesigen blühenden duftenden Garten, inmitten von Zitronen- und Orangenbäumen. Jesse und Luke erobern die Dachterasse, springen über Palmenwedel und Micha und ich trinken Bier aus geeisten Gläsern und schauen uns, auf den durch den Tag aufgeheizten Ziegeln liegend, den wunderschön klaren Sternenhimmel an. Unbeschwert...! 

Freunde aus Bochum sind zu Besuch: mit etlichen Kindern, noch mehr Proviant und einem Bollerwagen geht es runter an die Ruhr, zum Fische fangen, picknicken, planschen. Einige Kinder maulen, einige lachen. Die Sonne lacht vom Himmel. Unbeschwert! 

Vianne ist durch mit der schweren Chemo, wir sind kurz vor der Abfahrt in die Schweiz. Es ist so warm, weit über 20 Grad Celsiusu. Wir kleben ihren Broviak-Katheter mit wasserfesten Pflastern ab, bauen den Pool auf und rutschen vergnügt hinein. Ada und Viannes kleiner Freund ist zu Besuch, Luke hat ebenfalls zwei Jungs eingeladen. Alle spielen ausgelassen in unserem kleinen Garten. Gekreische, Gelächter, Geplansche... (auch zu diesem Zeitpunkt noch) Unbeschwert...! 
Ich vermisse so sehr... Der Schmerz ist so ein tiefes, intensives Gefühl - und zu meinem alltäglichen Begleiter geworden. Er kollidiert derweil mit luftigen, unbeschwerten und leichten Momenten. Ich habe ihn so verinnerlicht, dass er mir fast fehlt, wenn er nicht präsent ist. Ein Teil von mir verharrt in der Vergangenheit und lässt sich nicht hervorlocken, insbesondere wenn ich Bilder von Vianne und Jesse  sehe und entsprechende Gefühle, Erinnerungsfetzen und Momentaufnahmen hochkommen. Ich fühle mich in solchen Momenten so zweigeteilt, als ob ich nicht ganz im Hier und Jetzt leben würde. Es fühlt sich seltsam an - aber ich kann diesen Teil von mir nicht aus der Vergangenheit herausziehen - amputiert.
Ich weiß, dass ich nur dieses eine Leben habe. Und ich liebe das Leben im Allgemeinen, verbeuge mich davor und bin dankbar zu atmen. Hin und wieder fühlt es sich auch heute noch pur und rund und bunt an, insbesondere in der Nähe von Micha, Luke und Ada. Meine Kinder haben ebenfalls nur dieses eine Leben, das nicht nur von Schmerz und Verlust geprägt sein soll. Sie müssen nur zugreifen - und ich möchte es ihnen vormachen, denn es gibt  noch immer so viel Gutes in meinem Leben. Einfach 'mal den Blickwinkel wechseln und nicht vergleichen, mit dem, was einmal war. Wenn es doch nur so einfach wäre... Ich bin so zweigeteilt...so ruhelos...so suchend...so unausgefüllt
Gerade beim Zubettbringen haben Ada und ich uns über Farben unterhalten. Sie wollte wissen, ob der Regenbogen die Farben immer in der gleichen Anordung zeigen würde. Schließlich meinte sie ganz glücklich: "Mama, wir haben es wirklich gut, dass wir Farben sehen können, nicht so wie manche Tiere, die den Regenbogen nur in verschiedenen Grautönen sehen. Wir sind ganz schön verwöhnt, weil wir das Leben so bunt sehen können!" Kinder sind wirklich ein Wunder...