Es ist der 24. Juli 2019 - kurz nach Mitternacht. Wir sind gerade in Pozza di Fassa in Südtirol, während du zum fünften Mal stirbst.
Ich bin ganz nah bei dir, mein kleiner Wirbelwind. Während Luke, Ada und Micha im Zelt schlafen, verlasse ich in der Dunkelheit den Campingplatz und fliehe vor der Schmerzwelle zum nahe gelegnen Fluss, lausche in der Dunkelheit dem Rauschen des Wassers, während sich meine Seele nach dir verzehrt und dich zugleich fließen lässt.
Tags zuvor haben wir Teile des Rosengartens erwandert.
Tags zuvor haben wir Teile des Rosengartens erwandert.
Aber ich will höher. Zu dir. Zu Jesse. An deinem Todestag ruhen wir uns aus und verbringen einen chilligen Tag an einem Gebirgsbach. Der Tag plätschert vor sich hin, ähnlich wie unsere Holzstücke, die wir in den kalten Fluss werfen, lassen wir uns treiben. Jeder von uns bastelt etwas für dich: Micha schnitzt ein kleines Holzherz, Luke legt ein kleines Kunstwerk aus Naturmaterialien.
Ich fotografiere verschiedene Dinge in der Natur - einen filigranen Falter, ein sonnendurchflutetes Blatt, einen Stein im Flussbett, eine farbintensive Blüte - und schreibe im Bildbearbeitungsprogramm auf diese Elemente der Erde, des Wassers und der Luft deinen Namen. Ich sehe dich in all' diesen wunderbaren Dingen, mein Schatz.
Ada sucht Harz, das sie in einer eigens hergestellten Form aushärten lassen möchte. Emsig
sammelt sie das Harz an den verschiedenen Bäumen, doch leider klappt ihr
Vorhaben nicht. Sie ist so enttäuscht, da sie dir etwas
Einzigartiges und Beständiges fertigen wollte. Ich tröste sie, denn ich weiß,
dass DU ein Teil von ihr bist. Sie braucht dich. Sie fühlt sich so
verlassen, gerade jetzt, wo sie - getrennt vom Großteil ihrer Freunde -
auf die weiterführende Schule wechselt. Dieser Abschied vom
Altvertrauten fällt ihr schwer. Wenn du doch nur an ihrer Seite gehen
könntest.... Noch immmer zerreißen mich solche Bilder.
Am
nächsten Tag setzen wir einen lange gehegten Wunsch in die Tat
um: Wir sind gemeinsam mit Luke und Ada unseren ersten
Klettersteig im Hochgebirge angegangen. Bis auf 2800 Meter hat es uns
verschlagen - und wir waren dem Himmel ein ganzes Stück näher. Wir haben
dich und Jesse zum Gipfelkreuz getragen und im Gipfelbuch verewigt.
Ich liebe diese Adrenalinschübe. Ich liebe die körperliche Anstrengung,
die Herausforderung der schwierigeren Passagen, die Weite und
Erhabenheit der Berge um mich. Mit unserem Bergführer Alberto waren wir
gleich auf einer Wellenlänge. Jodelnd und mit den Murmeltieren um die Wette pfeifend brachte er uns die
Dolomiten nahe. Ada und er waren gleich "best bodys", denn sie erklomm wie eine kleine, wendige und äußerst trittsichere Bergziege die schwierigsten
Passagen. Nach dem Klettersteig ließen wir den Spätnachmittag gemütlich
mit Alberto auf der Berghütte einer Freundin ausklingen. Er erzählte uns
von seinen kleinen Drillingen, er erzählte uns von der Chefin der
Berghütte, die ihren Mann bei einem Bergunfall verloren hatte und tapfer
die Stellung hält... und wir erzählten von dir.
Nach einem heiteren Abstecher zu Freunden in Meran und Wasserburg am Inn ging ein sehr schöner Urlaub seinem Ende entgegen. Vor unserer Zeit in Südtirol hatten wir zuvor eine entspannte Woche auf Sardinien verbracht und uns von Wind, Sand, Felsen und Wellen mitreißen lassen. Durch diesen Urlaub wurden unsere Akkus wieder aufgefüllt.
Kurz vor unserem Urlaub musste ich noch einen Artikel für die Zeitschrift "Wir" der Deutschen Kinderkrebsstiftung fertigzustellen. Blöderweise hatte ich mich im Vorfeld nicht genau mit meiner Chefin über die Ausrichtung besprochen, so dass ich einen anderen Fokus gelegt hatte. Nach fleißiger Wochenendarbeit lieferte ich den Text am folgenden Tag ab, erleichtert, alles noch just in time fertigbekommen zu haben. Die Ernüchterung folgte am Dienstagmorgen. Ich bekam die Mitteilung, dass ich den Text noch einmal komplett überarbeiten müsste, da eine viel breitere Ausrichtung gewünscht war. Ich war eh schon mental angeschlagen (siehe letzter Blogeintrag). Ich zweifelte an meinen schreiberischen Fähigkeiten, zweifelte, ob ich überhaupt die Richtige in meinem Job bin. Zudem erfuhr ich parallel, dass eine meiner kleinen Patientinnen kurz zuvor in der Schweiz verstorben war. Ich ging in eine verfrühte Mittagspause, verkroch mich im Wald und konnte meine Tränen nicht mehr stoppen. Dann schniefte ich dreimal durch und arbeitete bis in den späten Abend an dem Artikel. Er ist letztendlich gut geworden, auch dank des förderlichen Austausches mit einem Kollegen. Kurze Zeit später, bei Adas Verabschiedungsfeierlichkeiten in der
Grundschule, gab es dann noch einen weiteren deep impact. Meine Gedanken flogen in die Vergangenheit.
Hier, am selben Ort, ist Ada vor vier Jahren eingeschult worden, nur wenige
Wochen nach deinem Tod, kleine Vianne. Wir stark und stolz und zugleich
verlassen sie damals in der großen Turnhalle stand, ohne dich an ihrer
Seite. Die ehemalige Rektorin richtete damals noch anteilnehmende Worte an uns, nachdem die Klassenlehrer mit ihren kleinen Schülern in ihre
Klassenräume entschwunden waren. Die Lehrer hatten dich beim Schulspiel vor der Einschulung kennenlernen dürfen, kleine Vianne - und du warst bezaubernd wie immer. Ich kann es noch immer nicht glauben, wie
mutig Ada durch diese vier Schuljahre ohne dich gegangen ist. Ihr wart zuvor noch nie
getrennt gewesen. Adas neuer Schulrucksack steht nun in ihrem Zimmer und wartet auf weitere Abendteuer auf dem Gymnsium. Dein ungetragener Tornister steht unangetastet unten im Raum... Eigentlich wollten wir ihn spenden, aber ich habe es letztendlich nicht über das Herz gebracht, ihn abzugeben. Zu präsent sind die Bilder, wie du diesen Tornister stolz zuhause vorgeführt hast.
Ja, ich brauchte dringend Urlaub... Noch am selben Abend brachen wir auf Richtung Genua... gepackt war natürlich bis zum Nachmittag noch nichts.
Ja, ich brauchte dringend Urlaub... Noch am selben Abend brachen wir auf Richtung Genua... gepackt war natürlich bis zum Nachmittag noch nichts.
Meine zauberhafte Vianne: Hier ist noch ein weiteres Geschenk von mir für dich. Ein sehr feinfühlig-fähiger Redakteur hat dich ein Stück zurück ins Leben geholt. Der Artikel resultiert aus der Lesung in Hennen. Ja - du und ich - wir waren zusammen in deinem ehemaligen Kindergarten.
Ich liebe dich und werde dich immer in mir tragen - meistens unsichtbar für die Welt um uns herum.