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Sonntag, 26. Juni 2016

Entscheidungen

Version 1 - doch nicht im Nirwana verschwunden :)
Echtzeit! Sonntag, 26. Juni 2016

Ich bin müde - unglaublich müde... Aber eine gute Freundin - nennen wir sie einfach mal "Menderella" (eine Mischung aus Merlin und Cinderella) hat gesagt: "Ich treffe jetzt die Entscheidungen für dich: Schreibe!" Ich bin müde, Entscheidungen zu treffen. So viele Entscheidungen in den letzten Monaten, in den letzten Jahren. Ich hadere mit etlichen. Ich traue mir selbst nicht mehr. Und das ist übel. Insofern hat mir "Menderella" eine Entscheidung abgenommen: "Schreibe!" Denn das tut mir gut, entlastet, bringt mir Ruhe in Momenten der Ruhelosigkeit. Sie ist ein Geschenk. Und ich danke - wem auch immer - dafür. Ich bin derzeit pure Emotion. Ich konnte in den letzten Wochen einfach nicht schreiben. Die Ideen, die Gedanken waren da, aber andererseits war da diese hohe Mauer, die mich von meinem Laptop getrennt hat. Die mich passiv gemacht hat. Ich traue mir und meinen Gefühlen selbst nicht mehr über den Weg. Umso wichtiger sind gute Freunde an meiner Seite, die den Weg nicht aus den Augen verliernen. Ich habe gerade ein Wochenende hinter mir, mit meinen "Liebesperlen". Ich fühle mich gestärkt. Sie haben mir kleine Momente der Unbekümmertheit beschert - in all dem Schmerz. Dafür bin ich dankbar. Wir waren am Meer. In Holland. Wind und Wellen und Wasser. Ich lebe all diese Sinneseindrücke für Jesse und Vianne. Es gibt kein Gewässer, in das ich nicht eingetaucht bin...egal wie kalt. Es gibt keinen Strand, an dem ich war, ohne Jesses und Viannes Namen mit Muscheln in den Sand geschrieben zu haben. Ich giere nach den Elementen, nach dem Extremen, nach Entlastung. Und ich scheue mich derzeit, tiefgreifende Entscheidungen zu treffen. Ich habe so viele Fehlentscheidungen in den vergangenen Wochen, Monaten, Jahren getroffen... So viele.... Wie gesagt: Ich traue mir nicht mehr! Und das ist schlimm. Ich hätte "Nein" sagen müssen zu Jesses Tennistour - mein Bauchgefühl hat es so laut hinausgeschrien... und ich habe nicht gehört. Ich hätte "Nein" sagen müssen zu Viannes Chemotherapie. Die neuesten Empfehlungen bei Ependymom-Behandlungen sehen keine Chemo bei einer R0-Resektion vor...sondern gleich Bestrahlung....ab 12 Monaten. Wir hätten ihr mehr Lebensqualität geben können. Mein Verstand sagt mir, dass "hätte" nicht der richtige Ansatz ist. Vielleicht wäre viel eher ein Rezidiv aufgetaucht. Aber wie gesagt: ich bin Gefühl pur momentan. Und mein Gefühl sagt mir: ein dreiviertel Jahr mehr Lebensqualität. Oder auch nicht? Ich traue mir selbst nicht. Ich bin müde...sooo müde. Ich erwache langsam. Aus dem Schock der Geschehnisse. Manchmal wünsche ich mir den Schock zurück. Welche Entscheidungen werde ich in Zukunft treffen müssen? Dominiert mein Herz? Oder mein Verstand? Bald ist es ein Jahr her, dass Vianne gestorben ist... Es kommt mir wie wenige Wochen vor... Wie kann ein Jahr vergangen sein? Ich erinnere mich nicht, so viel Zeit mir mir und meinem Schmerz verbracht zu haben. Der Schmerz ist ebenso intensiv wie zuvor ...keine Entlastung. Das Sehnen nach ihr, nach ihrem Lachen, nach ihrem Rumgezicke, nach ihren Berührungen, nach ihrem Blick auf die Welt ist so übermächtig... Ein Jahr ist es her, dass Jesse mit mir zum Gipfelkreuz des Tegelberges aufgestiegen ist. Nur wir beide. Es gibt ein Foto, das diesen Moment festhält. Nur wir beide - Arm in Arm auf dem Berg... Was würde ich für einen letzten kleinen Moment mit Jesse geben...ihn nur noch einmal berühren, spüren, hören... Luke geht es ebenso. Er ging morgens in die Schule, ging zusammen mit Jesse zum Bus.... und danach hat er ihn nie wieder lebend gesehen: "Mama, ich möchte Jesse nur noch ein einziges Mal sehen....". Als Jesse die Woche auf der Intensivstation lag, hat Luke mich gefragt, ob er zu ihm dürfe. Ich habe ihn vertröstet, habe gesagt, er dürfe bald zu ihm, wenn es Jesse etwas besser ging, wenn er wach ist. Nur ein Foto habe ich ihm gezeigt. Wie dumm von mir. Wie naiv. Fehlentscheidung! Luke hatte keine  Chance, sich zu verabschieden. Ich habe Angst, weitere Entscheidungen treffen zu müssen... aber es entspricht auch nicht meinem Naturell, anderen die Entscheidung zu überlassen. Nicht für immer... Nach Jesses Tod gab es so eine Phase, in dem ich mich von dem Schicksal so dermaßen gefi.... gefühlt habe, dass mir alles egal war. Ich war kurz davor, davon zu laufen - ohne Gewissen - pure, reine, ungefilterte Emotion. Ich bin Schmerz pur - in seiner reinsten Form...jeden Morgen, den ich aufwache, kämpfe ich... jeden Morgen...Und dabei öde ich mich selbst schon an. 

Entscheidungen

Echtzeit! Sonntag, 26. Juni 2016

Scheiße! Ich habe gerade geschrieben - und jetzt ist alles weg - weil ich es nicht abgespeichert habe. Scheiße! Und das jetzt. All meine Gedanken, alles fort. Gelöscht. Wieder ein Verlust. Wut pur! Und jetzt gelingt es mir nicht mehr, das Geschriebene zu wiederholen. Ich bin müde - so müde. Ich bin müde, Entscheidungen zu treffen. Ich habe mich gerade mit einer Freundin getroffen - nennen wir sie einfach mal "Menderella" - eine Mischung aus Merlin und Cinderella. Ich danke - wem auch immer - dafür. Sie hat mir eine Entscheidung abgenommen: "Schreibe!" Und das tue ich jetzt. Ich konnte in den letzten Wochen nicht. Da war eine hohe Mauer zwischen mir und meinem Laptop. Dabei bringt mir das Schreiben Ruhe in Zeiten der Ruhelosigkeit. "Schreibe!" Jaaaa! Habe ich. Und jetzt ist alles weg. Weil ich es nicht abgespeichert habe. Fehlentscheidung! Eine weitere in einer Reihe etlicher. Ich bin Emotion pur derzeit. Ich traue mir selbst nicht mehr über den Weg, traue meinen Entscheidungen nicht mehr. Das ist übel. Es waren zu viele schlimme Folgen, die aus meinen Entscheidungen erwachsen sind.. So weitreichende Konsequenzen... Ich hätte "Nein" sagen müssen zu Jesses Tennistour - mein Bauchgefühl hat es so laut hinaus geschrien... und ich habe nicht gehört. Ich hätte "Nein" sagen müsen zu Viannes Chemotherapie. Ein dreiviertel Jahr mehr Lebensqualität, das wir verschenkt haben. Fehlentscheidung! Nach heutigen Erkenntnissen wird beim Ependymom nach einer R0-Resektion keine Chemo mehr verabreicht - sofortige Bestrahlung - ab einem Alter von 12 Monaten. Mein Verstand sagt mir, dass das Schwachsinn ist, das ohne Chemo schon viel eher ein Rezidiv hätte auftreten können. Aber mein Gefühl herrscht derzeit über meinen Verstand. Ich hätte Luke ermöglichen müssen, Jesse noch einmal auf der Intensivstation zu besuchen. Fehlentscheidung! Ich habe ihm nur ein Foto gezeigt, ihn vertröstet auf später. Aber es gab kein später. Er ging morgens gemeinsam mit Jesse aus dem Haus - und hat ihn nie wieder gesehen. Kürzlich sagte er zu mir: "Mama, ich möchte Jesse nur noch ein einziges Mal sehen." Ja, nur noch ein einziges Mal... 
Ich giere derzeit nach mentaler Entlastung... Ich war am Wochenende mit meinen "Liebesperlen" in Holland - am Meer. Sie haben mir einen kleinen Moment mentaler Ruhe beschert. Und ich habe für Jesse und Vianne empfunden, habe Meer und Wellen und Wind genossen, für sie...wie immer. Jedes Mal spüre ich für sie Salz und Sand, jedes Mal tauche ich für sie in die Wellen ein, ganz gleich zu welcher Jahreszeit, schreibe ihre Namen mit Muscheln in den Sand... Ich giere nach diesen kleinen Auszeiten. Aber ich wache jeden Morgen im Schmerz auf. Jeden Morgen kämpfe ich mich empor aus einem Meer aus Schmerz und Sehnsucht und Verlust. Fast ein Jahr ist vergangen seit Viannes Tod... schon ein Jahr...und ich bin immer noch purer Schmerz, sehne mich nach ihrem Lachen, ihrem Gezicke, ihren schelmischen Blicken, ihren Berührungen. Ich erwache langsam...und wünsche mir den gnädigen Schockzustand des ersten halben Jahres nach Jesses Tod zurück. Vor einem Jahr haben wir gemeinsam das Gipfelkreuz des Tegelberges erklommen - haben Arm in Arm auf dem Berg in die Weite geschaut - lachend - trotz Viannes Erkrankung. Es gibt ein Foto davon. Schmerz pur, wenn ich es betrachte. Nach seinem Tod habe ich mich das erste Mal geweigert,  Entscheidungen zu treffen. Ich habe andere machen lassen, bin geflüchtet, vor mir, vor anderen, habe geschehen lassen, mich treiben lassen....gelähmt, handlungsunfähig. Habe mich vom Schicksal so dermaßen gef... gefühlt. Emotion pur - in seiner reinsten Form. Aber langfristig kann ich nicht anderen die Entscheidungen überlassen - das bin nicht ich. Nur muss ich mit meinen Entscheidungen leben lernen... Mein gelöschter Text traf es besser - Scheiße!

Sonntag, 12. Juni 2016

Herbst

Rückblick: September 2015


Zitat Ada (leise vor sich hin singend): "Ich wünsche einfach, dass sie wieder hier ist, auch wenn sie krank ist."

Ada und ich führen viele Gespräche über Vianne: traurige, tränenreiche, sehnsüchtige, ulkige, liebevolle, verschwörerische, geheimnisvolle... Sie erzählt mir, dass Viannes orangefarbener Sorgenfresser eine Eigenschaft hatte: Streit schlichten. Und ihr eigener kann Honig riechen. Ich liebe die Gedankengänge meiner Mädels, ihren Ideenreichtum und ihre Vorstellungskraft. Jeden Abend öffnen wir Adas Amulett mit Viannes Fotos und erzählen Vianne von den Ereignissen des Tages. Manchmal übersetzt Ada mir, was Vianne geantwortet hat. Manchmal weiß ich nicht, ob ich lachen oder weinen soll - also tue ich beides. Doch eines Mittags kommt Ada ohne ihr Amulett aus der Schule. Sie hat es vor dem Sportunterricht in der Umkleidekabine abgelegt. Daran kann sie sich noch vage erinnern. Meine Schwester macht sich mit ihr sofort zurück auf den Weg in die Turnhalle, aber das Amulett ist nicht mehr auffindbar. Auch der Hausmeister und die Reinigungskräfte haben nichts gefunden. In den nächsten Tagen helfen alle kräftig mit beim Suchen. Der Verlust des Amuletts trifft mich mehr, als ich mir eingestehen will. Nach wenigen Tagen kommt jedoch die erlösende Nachricht: Die Kette ist wieder aufgetaucht. Eine Reinigungskraft hatte sie unter einem Stuhl gefunden. Erleichtert atmen alle auf. An diesem Abend haben wir Vianne sehr viel zu erzählen...
Wir unternehmen viel in diesen Tagen - weil es uns gut tut. 

Wir treffen uns mit Lilli (Viannes Freundin aus dem Krankenhaus, die sich im Laufe der Zeit auch mit Ada angefreundet hat) und ihrer Mama auf dem Ketteler Hof. Der Dortmunder Elterntreff für leukämie- und tumorerkrankte Kinder e.V. hatte hierzu eingeladen. Wir verbringen einen lustigen Tag mit Klettern, Hüpfen, Schaukeln, Reiten, Grillen und Rehe füttern. Vianne fehlt. Überall: Beim Pferdereiten, im Märchenwald, auf dem Wasserspielplatz. Beim letzten Besuch panschten wir dort mit Sand und Matsche und sausten jauchzend mitten durch die Pfützen. Vianne trug ihr rotes Baderöckchen mit den weißen Punkten, was ihr so oft über die schmalen Hüften rutschte. 
Aber wir unternehmen auch neue, erinnerungsfreie Sachen. Adas neue Lieblingsbeschäftigung ist es, den Hund einer Freundin auszuführen. Gemeinsam springen Joey und sie durch Pfützen und rennen um die Wette - ein starkes Duo, die beiden.
Und wir bemalen zusammen mit ihren kleinen Freundinnen T-Shirts. Nur wenige Stunden später - mitten in der Nacht - erfahren wir von Jesses Unfall und unsere Welt wird ein weiteres Mal aus den Angeln gehoben....