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Dienstag, 29. Dezember 2015

Vianne-Wetter

Rückblick: Sonntag, 26. Juli 2015

In Adas und Viannes Kinderzimmer stehen zwei kleine Spielzeugvögel: einer in rosa, der Ada gehört, einer in lila, der Vianne gehört. Die Vögel können nicht nur zwitschern und singen, sondern auch aufgenommene Worte wiedergeben. Ich erinnere mich noch gut, wie die Mädels damit vor einigen Wochen fröhlich gespielt haben. Ein Gedanke kommt auf. Ich drücke den Wiedergabeknopf von Adas Vogel: "Tschüß Vianne!" höre ich Ada mit verstellter Stimme sagen. Zitternd nehme ich Viannes Vogel in die Hand: "Tschüß Ada", höre ich Vianne mit piepsiger Stimme antworten. Immer und immer wieder drücke ich den Wiedergabeknopf. Ich lache, während mir heiße Tränen die Wangen runterlaufen. Einmal drücke ich zu lang - und lösche damit die Aufnahme. Wird der Wiedergabeknopf zu lang gedrückt, nimmt er neu auf... Ich bin kurz vorm Durchdrehen... Ein letzter Abschiedsgruß von Vianne... Sie war da - ganz nah. Ich muss raus an die Luft...
Wir können die Kinder zu einer gemeinsamen Fahrradtour überreden - Adas erste richtige Fahrradtour. Ich packe einen Proviant-Rucksack und wische den aufkeimenden Schmerz trotzig zur Seite. Es ist alles so anders auf einmal. Dieses Mal werden wir keinen Fahrradanhänger mit Vianne dabei haben. Es ist befremdlich. Kein Notfallset. Keine Medizintasche. Keine sorgfältige Planung. Einerseits gibt es ein Stück Freiheit zurück, an die ich mich erst gewöhnen muss. Zu sehr waren insbesondere die letzten Wochen, aber auch die letzten Monate, Jahre von einer guten Planung bestimmt, in einer Hand die Brechschüssel griffbereit, in der anderen die Schmerzmittel oder zuvor die Broviak-Pflaster und den Mundschutz, im Gepäck immer die Sorge... Ja, es ist ein Stück weit befreiend. Befreiend und befremdlich in einem. Ich wünsche mir nichts sehnlicher als Vianne dabei zu haben, aber eine gesunde Vianne ohne Einschränkung und Schmerzen. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, wie lange ich es noch ertragen hätte, Vianne immer mehr schwinden zu sehen, sie so leiden zu sehen wie in den letzten beiden Wochen vor ihrem Tod. Ich hoffe so sehr, dass es ihr jetzt gut geht in ihrem Feenreich. Ich weiß, dass es ihr gut geht.
Wir schwingen uns auf unsere Fahrräder. Die Sonne lacht vom blauen Himmel, es ist windig - herrlich windig - mit wunderschönen, sich stetig verändernden Wolkenformationen. Der Fahrtwind ist ebenso befreiend. Ich schließe kurzzeitig die Augen, um Wind und Sonne intensiver zu spüren. "Die Wolke sieht aus wie eine Babyrobbe", schreit Ada plötzlich und bleibt abrupt mit ihrem kleinen Rad stehen. "Die ist von Vianne", ruft Ada. Wir schauen alle in den Himmel. Vianne liebte Baby-Robben! Vianne liebte Wolkenbilder. Noch im letzten Urlaub, als es ihr schon nicht mehr gut ging, lag sie zusammen mit Luke auf einer Decke im Gras. Beide schauten sich Wolkenbilder an und entdeckten immer neue Wolkentiere am Himmel. Und wie sie es liebte, wenn der Wind durch ihre Haare wehte. Wind und Wolken vor wunderbar tiefblauem Himmel - lebendig, immer in Bewegung, kraftvoll, naturgewaltig: "Heute ist Vianne-Wetter!", denke ich mit einem Mal. 
 

Später machen wir ein Picknick am See. Jesse, Luke und Ada albern nach einer ausgiebigen Stärkung ausgelassen auf der Picknickdecke herum. 


Für einen Moment ist der Schmerz nicht mehr so präsent. Wir alle fühlen uns etwas leichter. Vianne-Wetter eben! Sie ist bei uns! Das erste Mal seit ihrem Tod glaube ich, dass wir ihren Verlust verkraften werden, dass wir es als Familie schaffen werden. Aus schwarz wird blau, aus Windstille wird Wind, aus Wolken etwas Wunderbares, aus Starre wird Bewegung...
Am Abend höre ich, wie Ada mit ihrem kleinen Spielzeug-Handy mit Vianne telefoniert...

Freitag, 25. Dezember 2015

Ich kann sie spüren!

Zitat Ada: 25. Juli 2015, 20 Uhr: "Ich will zu Vianne!" Sie schreit und weint...
 
Rückblick: 25. Juli 2015
Vianne fehlt überall. Ich stehe morgens auf. Ich decke sechs Frühstücksteller und brauche nur noch fünf. Ihre kleinen Badelatschen stehen vor der Terrassentür. Ihre Jacke hängt an ihrem Haken. Ich weiß nicht mehr, wohin ich schauen soll. Sie ist überall und doch nirgendwo. Ihre Zahnbürste bleibt an diesem Morgen unbenutzt. Eine neue Schmerzwelle überrollt mich. Ich werde ab jetzt mit diesem Verlust leben müssen - oder untergehen. Ich will nicht untergehen. Vianne ist ein Teil von mir. Ein Teil von mir ist gestorben, aber da gibt es noch andere wichtige Teilstücke. Allerdings werde ich nie wieder ganz sein, nie wieder heil sein, das wird mir in diesem kleinen Moment so deutlich bewusst.
Gegen Mittag kommt die Bestatterin, mit der wir alles weitere besprechen werden. Sie ist einfühlsam, sie weiß, was in die Wege geleitet werden muss. Sie gibt guten Rat. Sie braucht Viannes Krankenkassenkarte, um die Krankenkasse zu informieren. Allein die Herausgabe ist für mich ein Kraftakt. Andi ist an Michas und meiner Seite, die ganze Zeit über. Wir müssen tätig werden, die Beerdigung in Angriff nehmen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Viannes Abschied in einer düsteren Kapelle oder einem nüchternen Gemeindesaal stattfinden soll. Alles in mir sträubt sich dagegen. Und plötzlich ist sie da: die Kraft, der Ansporn, die Bereitschaft, noch einmal alles zu geben - für Vianne. Die Ideen sprudeln. Sie soll ein luftiges, buntes (Zitat Vianne: "Bunt ist meine Lieblingsfarbe, Mama!"), Feen-Abschiedsfest erfahren, eine Party, wie sie sie sich gewünscht hätte, draußen, im Freien, unter blauem Himmel, inmitten der Natur. Das Gehöft lieber Freunde kommt mir in den Sinn. Ich werde sie fragen, ob sie bereit dazu sind, dass wir das Abschiedsfest auf ihrem Hof feiern. Es ist ein schwerer Anruf, aber es geht hier um Vianne, es geht hier darum, was ich noch ein letztes Mal für sie tun kann. Ich greife zum Telefon... Kurz darauf haben wir die Zusage. Ich bin unendlich erleichtert und dankbar.
Eigentlich hätte Luke heute ein Tennisspiel im Rahmen der Clubmeisterschaften gehabt. Wir lassen es ihm frei, ob er spielen möchte. Er entscheidet sich dagegen. Ich rufe die Familie an und sage ohne eine weitere Erklärung ab. Mehr kann ich nicht leisten. Luke möchte zu einem seiner besten Freunde zum Spielen. Später übernachtet er dort. Jesse hat Karten für das Juicy Beats Festival in Dortmund. Am Freitag, 24. Juli, wollte er nicht hingehen. Wir versichern ihm, dass es von unserer Seite aus okay sei, das Festival zu besuchen. Es gibt in solchen Momenten kein enggefasstes richtig oder falsch. Richtig ist das, was unseren Kindern gerade gut tut, was ihre geschundene Seele entlastet (solange es ethisch vertretbar ist). Am heutigen Samstag wäre er gerne gegangen, aber die Veranstaltung ist wegen des Sturms kurzerhand abgesagt worden. Abends besucht er mit seinen Freunden das Schützenfest und übernachtet anschließend bei seiner besten Freundin. "Ist es wirklich in Ordnung?", fragt er mich etliche Male. Ich nicke und nehme ihn fest in den Arm. Ada verbringt den Nachmittag bei ihrer Freundin Antonia. Alle halten uns den Rücken frei und geben uns Zeit für uns.
Am Nachmittag unternehmen Micha und ich einen langen Spaziergang. Ich muss raus an die Luft. Ein kräftiger, lebendiger Wind weht, wirklich wahre Sturmböen. Ich strecke mein Gesicht dem Himmel entgegen, spüre die Kraft des Windes . Die Zweige eines Baumes am Wegesrand knarzen auf ganz besondere Weise. Ich spüre sie... nichts geht verloren... allein rein physikalisch betrachtet ist es unmöglich... Ich spüre Vianne! Inmitten des mächtigen Windes sehe ich Vianne, wie sie ihr kleines Lockenköpfchen in den Nacken wirft und fröhlich jauchzt: "Ich kann den Wind in meinen Haaren spüren, meine Haare fliegen, siehst du, Mama!" Ein kleines, zartes, fast unsichtbares Lächeln schleicht sich auf mein Gesicht, umspielt meine Mundwinkel - und mein Herz ist voller Liebe...
Am Abend ist Ada außer sich, schreit und weint beim Zubettbringen: "Ich - will - zu -Vianne!" Solch eine Verzweiflung, solch ein brachialer Schmerz. Sie weint sich in den Schlaf. Ein weiterer Schatten legt sich auf mein Herz. Was wird unseren Kindern, insbesondere Ada, nur angetan. Vianne ist doch ihre Zwillingsschwester! Sie waren noch nie wirklich getrennt...

Mittwoch, 23. Dezember 2015

Weihnachten, Erinnerungen, Wünsche

Echtzeit! 23. Dezember 2015

In wenigen Stunden, am 24. Dezember, ist es genau fünf Monate her, dass Vianne in meinen Armen gestorben ist. Fünf Monate, und die Schmerzwellen sind noch immer 30 Meter hoch. Die Weihnachtszeit ist hart: sie öffnet das Herz, das eh schon so verwundet ist. Das spüre ich nicht nur bei mir, sondern auch ganz intensiv bei Ada: sie hat heute Abend schrecklich um Vianne geweint, ihre tiefen Schluchzer ließen ihre kleine Brust regelrecht vibrieren, ihre Verzweiflung so sichtbar, so greifbar. Sie hat ihr Vianne-Amulett um ihr kleines Stoffpony geschlungen und es sich ganz nah an ihr Herz gelegt. "Mama, dass Pony erinnert mich an Vianne", sagt sie leise. Und dann: "Ich habe nur noch Pech! Ich werde nie wieder glücklich sein", kommt zwischen den Schniefern hervor. "Doch", schreit alles in mir, während auch mir die Tränen die Wangen hinunterrinnen. "Doch! Wirst du!" Du wirst ein langes, glückliches Leben führen, mein Schatz. Da ist sie wieder: meine Überzeugung, mein Trotz, mein Kampfgeist, mein Lebenshunger. Ich lasse mir das wohlig-warme Gefühl des Glücks nicht einfach nehmen, und erst recht nicht meiner kleinen Tochter. Wir werden uns da rauswühlen. Für Vianne. Für Jesse. Ich wische meine Tränen zur Seite, nehme Adas Köpfchen zwischen meine Hände, und spreche behutsam auf sie ein. Sie bringt ein zartes, zögerliches Lächeln hervor, noch etwas schief, noch etwas unbeholfen, aber immerhin ein Lächeln. Ich muss ihr versprechen, dass ich morgen, Heiligabend, nicht traurig sein werde. Ich werde es versuchen...
In wenigen Stunden, am 24. Dezember, ist es genau ein Jahr her, dass wir Weihnachten im Skiurlaub, im Stubaital gefeiert haben, gemeinsam mit Andi und Ralf, gemeinsam mit allen Kindern. Mit Jesse und Vianne. Wir haben den ganzen Tag auf der Piste verbracht, haben das "Kaiserwetter" genossen, sind unter strahlend-blauen Himmel die Berge hinuntergewedelt, gecarvt und haben tiefe Spuren im Pulverschnee hinterlassen. Ich wollte angeben und bin mit dem Snowboard gesprungen - unterhalb des Sessellifts, über eine Eiskante - und habe mich so dermaßen auf die Nase (oder eher gesagt auf den Hintern) gelegt, dass man den tiefen Abdruck im Schnee noch Tage später aus dem Lift sehen konnte. Mein Ego war nach dem hämischen Gelächter meiner Familie allerdings noch stärker beschädigt... ein paar Minuten lang zumindest. 



 


















































Ada und Vianne sind hinter Jakob, dem weltbesten Skilehrer, wie kleine Entchen hergefahren. Später auf der Hütte haben sich beide von ihm ihre müden Füßchen massieren lassen, während sie dabei genüsslich heißen Kakao schlürften. Ich bin mir nicht sicher, ob die Fußmassage im Skikurspreis mit drin war, aber meine kleinen "Schneeköniginnen" können ganz schön überzeugend charmant sein, wenn sie etwas wollen.... Am 24. Dezember vor einem Jahr haben Ada und Vianne "ihren" Ralf hinter dem Mini-Weihnachtsbaum in unserer Ferienwohnung aufgespürt, während er schwitzend versuchte, das krumme Bäumchen irgendwie im Christbaumständer festzumachen. Anschließend sind sie ausgelassen zu ganz untypischer Weihnachtsmusik durch die Küche getanzt und nach der Bescherung übermütig und verliebt auf Lizzy rumgeturnt, ihrem neuen Spiel-Reitpferd. Heute vor einem Jahr, als die Welt noch ein Stück weit mehr in Ordnung war, trotz der schlechten Prognose...
Dieses Jahr kann ich nicht über Weihnachten in den Skiurlaub fahren, kann mich (noch) nicht dem Schnee und den Bergen und den Pisten stellen, kann kaum meine Skier und mein Snowboard anschauen. Aber für das Frühjahr habe ich gerade eben den Skiurlaub mit lieben Freunden gebucht. Und dann werde ich, werden wir bereit sein, Spuren auf den frisch gespurten Pisten zu hinterlassen - für Vianne, für Jesse, die beide das Ski- bzw. Snowboardfahren so geliebt haben. Wir werden den Schnee aufwirbeln lassen, wir werden rasante Abfahrten wagen und über zahlreiche Buckel springen und diverse Stunts probieren (um Jesse und Viannchen "dort oben" zu beeindrucken, wobei ich sicher wieder auf dem Hosenboden landen werde). Und hin und wieder werde ich einfach die Abkürzung abseits der Piste nehmen und verbotenerweise durch den Wald fahren (das hat Jesse letztes Jahr gemacht und sich dafür eine mega-mächtige Standpauke von mir abgeholt. Für Vianne und Jesse werden wir alles auf den Brettern geben...für das Leben...für das Glücksgefühl...und letztendlich auch für uns! 
Frohe Weihnachten euch allen da draußen! 
 







Montag, 21. Dezember 2015

Leere Hülle...

Rückblick: 24. Juli 2015 - abends

Johanna, eine liebe Freundin, kommt am frühen Abend mit einer Nachricht vorbei. Wir können Vianne auf dem Hennener Friedhof beerdigen lassen, ganz in unserer Nähe, wenn wir es wünschen. Das hätte die Pastorin angeboten. Wir hatten uns bisher keine Gedanken darüber gemacht, dass Vianne eigentlich kein Anrecht hat, auf einem kirchlichen Friedhof begraben zu werden, weil unsere ganze Familie keiner Glaubensrichtung angehört. Jetzt war ich gerührt und dankbar, dass ihr Grab in unserer Nähe sein würde. Früher habe ich immer gedacht, es sei überhaupt nicht wichtig, eine Grabstätte zu haben - egal wo. Schließlich liegt da nur noch der Körper, eine Hülle, ohne Leben. Schließlich habe ich den Verstorbenen in meinem Herzen und kann an jedem Ort auf der Welt intensiv an ihn denken. Jetzt änderte sich meine Einstellung. Allein für unsere Kinder und alle, die Vianne lieb haben, brauchten wir einen zentralen Ort des Gedenkens, der am besten fußläufig zu erreichen ist. Und andererseits war der Gedanke so fremd, so verstörend... Für mich ging alles viel zu schnell: so viel Organisatorisches, so viel zu regeln, zu entscheiden, zu tun. Dabei war ich eigentlich nur voller Traurigkeit. Zum Glück hatte Bianca vom Kinderpflegeteam bereits am Morgen Kontakt zu einem Bestatter aufgenommen, mit dem sie gute Erfahrungen gemacht hatte. Sie war die traurige Expertin, nicht ich. Ich hingegen war nur erleichtert, dass sie die ersten Schritte wie die Kontaktaufnahme und die Abholung in die Wege geleitet hatte. Ich hätte es nicht gekonnt. 
Plötzlich nimmt Ada Johannas Hand und sagt in einem verschwörerischen Ton, der auch ein Stück Faszination nicht verhehlen kann: "Komm, ich zeige dir Vianne." Noch bevor ich reagieren kann, zieht sie Johanna hinter sich her in unser Schlafzimmer. Wie angewurzelt bleibt sie in der Tür stehen: "Mama, wo ist sie?", fragt sie irritiert und zugleich aufgewühlt. Schon wieder fühle ich mich komplett überfordert. Ich nehme sie in den Arm, behutsam, liebevoll und erkläre meiner kleinen Tochter, dass die Bestatter Viannes Körper mitgenommen hätten. Wir wollten ganz bewusst nicht, dass die Kinder diesen Moment mitbekommen. "Aber wo ist sie?", will Ada genau wissen. "In Dortmund, in einer Halle, in der es kühl ist", antworte ich. "Warum kann ihr Körper denn nicht hier bei uns bleiben?", fragt Ada mit leisem Stimmchen. Ich muss schlucken: "Weißt du, Viannes Körper verändert sich, jetzt, wo kein Leben mehr darin ist." Ich versuche ihr begreiflich zu machen, dass der Körper nur noch eine leere Hülle ist, dass Vianne nicht mehr in diesem Körper ist. In meiner Verzweiflung fällt mir nur der Vergleich mit einer Smarties-Rolle ein: "Wenn die leckeren, bunten Smarties einmal raus sind, bleibt nur noch eine leere, inhaltlose Papphülle." Behutsam schiebe ich Ada zurück in den Flur, nehme ihre kleine Hand in meine. Wir kehren dem Raum den Rücken... "Vianne fehlt mir...", sagt Ada leise.

Freitag, 18. Dezember 2015

Beinahe ertrunken

 Zitat von Ada:
24. Juli 2015, gegen 14.30 Uhr: Sie tritt, weint und schreit: "Ich will mit Vianne spielen!"

Rückblick: 24. Juli 2015 - nachmittags
Die Schmerzwelle trifft mich mit voller Wucht. Nachdem Viannes Körper abgeholt wurde. Ich flüchte, gehe laufen, weit, weit weg und überanstrenge mich, gehe bis an den Rand des Möglichen, laufe und laufe und laufe. Als ich wieder zu Hause ankomme, suche ich Vianne. "Wo bist du?", schreie ich innerlich. Ich kann sie nicht finden. Ich setze mich auf ihr Bett, halte ihr Einhorn im Arm. Ich kann nur noch in Endlosschleife denken: "Ich will Vianne zurück!" Ich flehe Micha an: "Bitte, hol mir Vianne zurück!" Es fühlt sich an, als ob mir jemand gewaltsam ein Stück meines Herzens herausgerissen hat. Der Schmerz wird körperlich. Ich schreie nur noch, bin von Weinkrämpfen geschüttelt. Ich lege mich in Viannes Bett, rolle mich zusammen und schlafe erschöpft ein. Micha deckt mich zu. Stunden später werde ich wach - und der Schmerz ist wieder da. Massiv, alles überlagernd, gewaltig. So gewaltig. Wimmernd, Viannes Bettdecke an mich gepresst, gehe ich ins Wohnzimmer, außer mir. "Was kann ich tun?", fragt Micha. "Willst du mit jemanden sprechen?", fragt er besorgt. "Ja, mit Vianne", heule ich auf," ich will mit Vianne sprechen. Ich will meine Vianne wiederhaben - BITTE" - Ich bekomme keine Luft mehr. Panik überrollt mich. Ich habe diesen unglaublich starken Schmerz nicht mehr im Griff, ich scheine darin zu versinken. Für einen Moment denke ich, nie mehr aus diesem Meer aus Schmerz auftauchen zu können. Micha hält mich, redet behutsam auf mich ein. "Du musst loslassen." Dieser kleine Satz bringt mich zurück. Ich durchbreche den zähen See aus Schmerz, kämpfe mich an die Oberfläche. Ich war nah dran....zu versinken...

Wenn der Himmel weint...

Zitat von Ada:
Im Mai 2015: "Ich möchte nicht, dass Vianne stirbt. Warum muss das überhaupt sein? Ich stelle mir das so vor, dass man dann im Himmel ist, ganz hoch oben, und man von oben auf die Wolken blickt."

Rückblick: 24. Juli 2015 - tief in der Nacht
Wir holen Jesse und Luke hinzu. Beide Jungs sollen Abschied nehmen dürfen. Mitten in der Nacht. Es ist ein Bauchgefühl. Ganz behutsam fragen wir sie, ob sie Vianne noch einmal sehen möchten. Sie nicken. Jesse berührt sofort Viannes kleinen Körper, Luke ist zurückhaltender. Ich weiß noch nicht einmal mehr, ob sie geweint haben. Ich glaube schon. Später schlafen beide gemeinsam in Jesses Zimmer. Es ist so gut, dass sie sich haben, sich gegenseitig halten können.  Luke hatten wir zuvor mitten in der Nacht bei seinem Freund abgeholt. Er war seit dem Nachmittag zum Spielen dort und sollte anschließend bei ihm übernachten. Doch jetzt ist es wichtig, dass er nach Hause kommt. Ada war mit ihrem Kindergartenfreund nachmittags im Zoo. Ich bin so froh, dass die Kinder abgelenkt waren und die letzten schweren Stunden nicht hautnah miterlebt haben. Micha und ich beschließen, dass wir Ada nicht mitten in der Nacht wecken. Wir wollen uns noch bis zum Morgengrauen ganz ruhig von Vianne verabschieden können. Wir holen Ada am nächsten Morgen hinzu - zeitig - weil sich Viannes Körper bereits langsam verändert. Ich bin erschrocken, wie schnell es passiert. Ada weint. Sie bedeckt Viannes fahles Gesicht mit unzähligen Küsschen, ganz behutsam, ganz sanft, ganz vertraut. Sie hat ihr aus dem Zoo ein Kuscheltier mitgebracht: einen kleinen Plüschtiger, der nun in Viannes Armen ruht. Er liegt neben "Hoppel", Viannes Lieblingshasen, der sie überall hin begleitet hat: zur Bestrahlung, ins MRT-Gerät, zu den OPs, in den Urlaub... "Hoppel" wird für immer bei Vianne bleiben. Im Vorfeld hatte sich Ada gewünscht, dass sie ein Amulett mit einem Foto von Vianne darin und Vianne ein entsprechendes Amulett mit Adas Foto darin bekommt. Was für eine wunderschöne Idee. Wir legen Vianne ihr Amulett nun behutsam um.
Das Kinderpflegeteam hatte uns im Vorfeld mit auf den Weg gegeben, dass wir nach Viannes Tod noch ganz viel Zeit mit ihr hätten, wenn wir das wünschen. "Es muss keine Hektik ausbrechen", erklärte Bianca., die sich in den letzten Wochen so liebevoll um Vianne gekümmert hat. Vianne mochte sie sehr. Und ich bin ihr dankbar, dass sie das Thema angesprochen hat. Ich hatte mir im Vorfeld auch schon Gedanken darüber gemacht, habe aber nicht gewusst, wie ich das Unaussprechliche hätte ansprechen sollen. Nun gab es uns Sicherheit. Wir wussten, wir müssen am nächsten Morgen nur den Arzt vom Palliativteam informieren, der dann im Laufe des Tages vorbeikommt, um den Tod zu bestätigen. Insgesamt hätten wir maximal 72 Stunden Zeit. Aber die Nacht und der aufkommende Morgen haben uns zum Verabschieden gereicht.Ganz früh am Morgen gehe ich auf unsere Terrasse. Die Sonne scheint und der Himmel weint. Gleichzeitig. Es regnet. Wunderschöne Schleierwolken zieren den Himmel. Feenschleier. Für Vianne. Für meine kleine Fee. Gegen 11 Uhr kommt das Palliativteam mit dem Essener Onkologen vorbei. "Vianne, ich werde dich nun ein letztes Mal untersuchen", spricht Dr. T. unsere Tochter respektvoll an. Ich bin so froh, ihn - ein vertrautes und geschätztes Gesicht - hier zu sehen. Er stellt ihren Tod fest. Die Kinderpflege stellt anschließend den Kontakt zu einem Bestattungsunternehmen her. Ich hätte die Kraft nicht mehr gehabt. Um 15 Uhr wollen sie Viannes Körper abholen. Gemeinsam mit Ada suche ich Viannes Lieblings-Anziehsachen aus. Wir entscheiden uns gemseinsam für das rote "Erdbeerkleid", um das sich die beiden immer gestritten haben. Darunter ein Schmetterlings-T-Shirt, darüber ihre weiß-grau-getupfte Lieblingsstrickjacke. Keine Socken! Die mochte sie nicht. Ich ziehe meine kleine Tochter ein letztes Mal an. Ich muss es tun. Um ganz sicher zu sein, dasss kein Leben mehr in diesem kleinen Körper ist. Gemeinsam mit "Hoppel" legen wir sie in den kleinen weißen Sarg. Andi und Ralf sind seit dem frühen Morgen bei uns, geben uns Sicherheit, geben uns Halt. Adieu Vianne! Anschließend gehe ich Laufen. Weit...

Dienstag, 15. Dezember 2015

Drei zarte Flügelschläge

"Dieser Blog beginnt mit dem Tod und endet mit dem Leben."
 
Rückblick: Freitag, 24. Juli 2015 - 0.45 Uhr

Ihre Atemzüge sind leiser geworden. Das schreckliche, kaum zu ertragende Brodeln der letzten Stunden hat aufgehört. Für Außenstehende sei es schwer auszuhalten, Vianne selbst habe keine Atemnot und somit keine Angst, weil ihr Hirn die Sauerstoffunterversorgung nicht rückmeldet. Das hatten uns die Ärzte im Vorfeld versichert. Ein Tumor sitzt im Hirnstamm, wo die Steuerung des Atemzentrums liegt. Die Tumorlast ist insgesamt zu groß. Ich hoffe so sehr, dass sie keine Angst verspürt. Und doch sind da leise Zweifel. Aber sie wirkt ganz ruhig, eigentlich gar nicht ängstlich. Sie atmet schwächer, sie atmet langsamer. Die Atempausen werden größer. Sie liegt zwischen uns, klein und zerbrechlich und friedlich, fast durchscheinend. Ihre Augen sind geschlossen. Ich spüre es. Es wird Zeit für sie zu gehen. Sie darf sich ins Feenreich aufmachen. Ich sage es ihr noch einmal - zum letzten Mal. Meine Hand liegt auf ihrem Herzchen. Es schlägt noch dreimal - so zart wie der Flügelschlag eines Schmetterlings. Dann hört es für immer auf zu schlagen. Mit jeder Faser meines Körpers nehme ich diesen winzigen, magischen Moment wahr, in dem Vianne fortgeht, in dem plötzlich kein Leben mehr in ihrem kleinen Körper ist. Ihr Gesichtsausdruck: so stark, so überlegen, fast ein wenig schelmisch. Der Tod macht mir keine Angst mehr. Er ist so intim, so leise, so sanft und respektvoll zu meiner kleinen Tochter gekommen, dass ich einen Moment nur demütig und ergriffen bin und mir bewusst wird, wie viel wir eigentlich nicht wissen, wie wenig Zusammenhänge wir verstehen, wie klein wir im Universum sind. Dann fange ich an zu schreien. Ihr Herz schlägt nicht mehr und ich spüre mein Herz nicht mehr...
Später in der Nacht halte ich sie in meinen Armen, ganz fest. Ich kann ihren Körper nicht loslassen - nicht, solange noch Wärme in ihm ist. Ich kann nicht... Dieser kleine Rest Wärme hält die eisige Kälte in Schach, die sich langsam aber unaufhaltsam in mir ausbreitet...
 

Sonntag, 13. Dezember 2015

Bald geht's los!

Diese Seite befindet sich derzeit noch im Aufbau - aber bald geht's los. Versprochen! Bis dahin schaut einfach unter niste71.blog.de nach. Dort könnt ihr alles über "Ich heiße Vianne!" erfahren. Leider schließt Blog.de bereits morgen. Es gibt Viannes und unsere Geschichte seit kurzem jedoch als Taschenbuch zum Nachlesen.
Eure Nic

 

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