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Freitag, 25. Dezember 2015

Ich kann sie spüren!

Zitat Ada: 25. Juli 2015, 20 Uhr: "Ich will zu Vianne!" Sie schreit und weint...
 
Rückblick: 25. Juli 2015
Vianne fehlt überall. Ich stehe morgens auf. Ich decke sechs Frühstücksteller und brauche nur noch fünf. Ihre kleinen Badelatschen stehen vor der Terrassentür. Ihre Jacke hängt an ihrem Haken. Ich weiß nicht mehr, wohin ich schauen soll. Sie ist überall und doch nirgendwo. Ihre Zahnbürste bleibt an diesem Morgen unbenutzt. Eine neue Schmerzwelle überrollt mich. Ich werde ab jetzt mit diesem Verlust leben müssen - oder untergehen. Ich will nicht untergehen. Vianne ist ein Teil von mir. Ein Teil von mir ist gestorben, aber da gibt es noch andere wichtige Teilstücke. Allerdings werde ich nie wieder ganz sein, nie wieder heil sein, das wird mir in diesem kleinen Moment so deutlich bewusst.
Gegen Mittag kommt die Bestatterin, mit der wir alles weitere besprechen werden. Sie ist einfühlsam, sie weiß, was in die Wege geleitet werden muss. Sie gibt guten Rat. Sie braucht Viannes Krankenkassenkarte, um die Krankenkasse zu informieren. Allein die Herausgabe ist für mich ein Kraftakt. Andi ist an Michas und meiner Seite, die ganze Zeit über. Wir müssen tätig werden, die Beerdigung in Angriff nehmen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Viannes Abschied in einer düsteren Kapelle oder einem nüchternen Gemeindesaal stattfinden soll. Alles in mir sträubt sich dagegen. Und plötzlich ist sie da: die Kraft, der Ansporn, die Bereitschaft, noch einmal alles zu geben - für Vianne. Die Ideen sprudeln. Sie soll ein luftiges, buntes (Zitat Vianne: "Bunt ist meine Lieblingsfarbe, Mama!"), Feen-Abschiedsfest erfahren, eine Party, wie sie sie sich gewünscht hätte, draußen, im Freien, unter blauem Himmel, inmitten der Natur. Das Gehöft lieber Freunde kommt mir in den Sinn. Ich werde sie fragen, ob sie bereit dazu sind, dass wir das Abschiedsfest auf ihrem Hof feiern. Es ist ein schwerer Anruf, aber es geht hier um Vianne, es geht hier darum, was ich noch ein letztes Mal für sie tun kann. Ich greife zum Telefon... Kurz darauf haben wir die Zusage. Ich bin unendlich erleichtert und dankbar.
Eigentlich hätte Luke heute ein Tennisspiel im Rahmen der Clubmeisterschaften gehabt. Wir lassen es ihm frei, ob er spielen möchte. Er entscheidet sich dagegen. Ich rufe die Familie an und sage ohne eine weitere Erklärung ab. Mehr kann ich nicht leisten. Luke möchte zu einem seiner besten Freunde zum Spielen. Später übernachtet er dort. Jesse hat Karten für das Juicy Beats Festival in Dortmund. Am Freitag, 24. Juli, wollte er nicht hingehen. Wir versichern ihm, dass es von unserer Seite aus okay sei, das Festival zu besuchen. Es gibt in solchen Momenten kein enggefasstes richtig oder falsch. Richtig ist das, was unseren Kindern gerade gut tut, was ihre geschundene Seele entlastet (solange es ethisch vertretbar ist). Am heutigen Samstag wäre er gerne gegangen, aber die Veranstaltung ist wegen des Sturms kurzerhand abgesagt worden. Abends besucht er mit seinen Freunden das Schützenfest und übernachtet anschließend bei seiner besten Freundin. "Ist es wirklich in Ordnung?", fragt er mich etliche Male. Ich nicke und nehme ihn fest in den Arm. Ada verbringt den Nachmittag bei ihrer Freundin Antonia. Alle halten uns den Rücken frei und geben uns Zeit für uns.
Am Nachmittag unternehmen Micha und ich einen langen Spaziergang. Ich muss raus an die Luft. Ein kräftiger, lebendiger Wind weht, wirklich wahre Sturmböen. Ich strecke mein Gesicht dem Himmel entgegen, spüre die Kraft des Windes . Die Zweige eines Baumes am Wegesrand knarzen auf ganz besondere Weise. Ich spüre sie... nichts geht verloren... allein rein physikalisch betrachtet ist es unmöglich... Ich spüre Vianne! Inmitten des mächtigen Windes sehe ich Vianne, wie sie ihr kleines Lockenköpfchen in den Nacken wirft und fröhlich jauchzt: "Ich kann den Wind in meinen Haaren spüren, meine Haare fliegen, siehst du, Mama!" Ein kleines, zartes, fast unsichtbares Lächeln schleicht sich auf mein Gesicht, umspielt meine Mundwinkel - und mein Herz ist voller Liebe...
Am Abend ist Ada außer sich, schreit und weint beim Zubettbringen: "Ich - will - zu -Vianne!" Solch eine Verzweiflung, solch ein brachialer Schmerz. Sie weint sich in den Schlaf. Ein weiterer Schatten legt sich auf mein Herz. Was wird unseren Kindern, insbesondere Ada, nur angetan. Vianne ist doch ihre Zwillingsschwester! Sie waren noch nie wirklich getrennt...

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