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Samstag, 5. November 2016

Eine Reise - vor und zurück - Teil II

Rückblick: Mallorca (Herbstferien 2016)

Ich war doch sehr erleichtert, dass wir bei Antoni an der Cala Anguila in diesem Jahr nicht exakt das gleiche Reihenhaus wie im Herbst 2014 bekommen hatten. Dieses Mal wohnten wir nicht am Ende der Reihe, sondern mittendrin. Mit äußerst gemischten Gefühlen betrat ich die Anlage. Beim Anblick des Pools musste ich schlucken und Viannes Schatten zur Seite wischen, weil sogar das Schemenhafte zu schmerzhaft war. Ich sah sie, wie sie in dem kleinen Schlauchboot fröhlich und ganz in ihrer kindlichen Welt versunken durch das Becken paddelte. Ich sah sie gemeinsam mit Ada auf der Liege auf der Terrasse kuscheln, ich sah sie mit Luke vor den bunten Blumen im Garten stehen, sah sie mit den allen über die Wiese toben... Es tat weh! Ich war froh, dass Andi und Ralf uns an die Cala Anguila begleiteten. Das war eine willkommene Neuerung. Vor zwei Jahren stießen sie erst in unserer letzten Ferienwoche in der Unterkunft in Caimari hinzu. 
Da das Ferienhaus noch gereinigt wurde - wir waren vor der vereinbarten Zeit angekommen - stellten wir lediglich unsere Koffer in die Zimmer, zogen uns unsere Badesachen an und testeten erst einmal den Pool. Das erfrischende klare Wasser, die wärmende Sonne, unsere lachenden Kinder und der Duft nach Meer (oder mehr) machten unsere angeschlagene Seele wieder leichter. Andi und Micha besorgten aus dem nahe gelegenen Minimarkt ein Begrüßungsgetränk und wir stießen gemeinsam auf einen schönen Urlaub an. Nach etlichen albernen Pool-Spielchen spazierten wir gemeinsam in unsere Badebucht. Auch das war kein leichter Gang. Hockte Vianne nicht gerade dort vorne in der Brandung und baute emsig eine Sandburg? Ihre dunkelblonden Löckchen lugten unter dem Sonnenhut verspielt hervor... Fläzte sich Jesse nicht faul dort drüben auf dem Strandtuch, seine knallgelbe Sonnenbrille lässig auf der Nase...? Wir waren zurück an dem Ort, an dem wir vor zwei Jahren eine gute Zeit mit all' unseren vier Kindern verbracht hatten. Nun standen wir hier lediglich zu viert, allerdings mit Andi und Ralf stützend an unserer Seite, und wir fielen nicht um. Ein guter Anfang! Eine starke Brandung begrüßte uns und spiegelt zugleich unser Innerstes wider. Während Ada noch etwas zweifelnd und zurückhaltend am Strand stand, stürzten sich Micha und Luke bereits in die hohen Wellen. Wieder zurück im Ferienhaus richteten wir uns erst einmal ein. Am Abend fuhren Andi und ich mit Luke und Ada in den großen Supermarkt außerhalb des Ortes, um uns für die nächsten Tage ausreichend mit großen und kleinen Leckereien einzudecken.
Die nächsten Tage verbrachten wir abwechselnd am Pool oder am Strand, bauten Drachen und Schildkröten aus Sand und kletterten über die Felsen. Doch meine innere Unruhe wuchs. Unbedingt wollte ich zu der Felsspitze oberhalb der Nachbarbucht, die wir vor zwei Jahren, kurz nach unserer Ankunft am frühen Morgen, mit Vianne und Jesse, Ada und Luke erklommen hatten. Da es Micha nicht so gut ging - er hatte sich den Magen verdorben - und Ada und Luke keine Lust auf eine Wanderung hatten, machte ich mich mit Andi und Ralf auf den Weg. Ich ließ meine Gedanken schweifen, mal voller Freude über die mich umgebende Natur, den Duft des wild wachsenden Rosmarins aufsaugend, mal voller Schwermut und Sehnen nach Vianne und Jesse. Am Abend zuvor, als wir alle gemütlich auf der Terrasse gesessen hatten, schaute sich Ada alte Fotos auf Andis Handy an. Plötzlich schallte uns ein sehr vertrautes und so lange vermisstes Kichern entgegen. Viannes Kichern. Ich schaute irritiert auf Andis Handy. In dem Video, dass Ada geöffnet hatte, saß Vianne zusammen mit Jesse auf unserem Küchenboden und sie spielten mit einem Luftballon. Ich konnte mich noch so genau an diesen Moment erinnern. Es war im Februar 2015, kurz nach unserer Rückkehr aus der Schweiz und der Essener Klinik. Jesse kümmerte sich rührend um Vianne und brachte sie andauernd zum Lachen. Ein solch starker Schmerz, ein solch starkes Verlangen nach den beiden durchflutete mich, dass ich dachte, mein Herz würde jeden Moment in Millionen kleinster Kristallsplitter zerspringen. Dieses Gefühlschaos begleitete mich auf der Wanderung entlang der Steilküste. Bei unserer Rückkehr ging es mir langsam wieder besser. Doch ich kam mir wie ein Schauspieler vor. Unsere Nachbarn erlebten uns größtenteils als ganz normale, fröhliche Familie mit zwei Kindern - was für ein Trugschluss. Wir waren weit entfernt von normal. Immer wieder musste ich daran denken, wie sie uns wohl betrachen würden, wenn sie von unserer Geschichte wüssten. In ganz fiesen, bitterbösen Momenten wollte ein Teil von mir diese Menschen schocken, wollte ihnen entgegenschleudern, dass nicht immer alles so ist, wie es scheint, dass das Leben mies und das Schicksal scheiße ist und das wir absolut kaputt sind. Natürlich ließ ich es bleiben. Zur Krönung zog am letzten Tag auch noch eine Familie mit fünfjährigen Zwillingsmädchen neben uns ein. "Zeit, die Zelte abzubrechen", dachte ich nur. Ja, manchmal fühlt man sich so dermaßen verarscht. Es war in diesem Moment schwer, meinen aufkommenden Neid und diese widerliche Missgunst, die ich dieser Familie ungerechtfertigter Weise gegenüber empfand, wieder in den Griff zu kriegen. 
Im Vorfeld hatten wir mit Ada und Luke vereinbart, dass wir auf der Insel eine einzige große Wanderung - nämlich durch den Torrent de Parreis - unternehmen werden. Uns erwartete eine anspruchsvolle, spannende und landschaftlich ausgefallene, sechsstündige Klettertour, die die Kinder mit Bravour und Mut souverän meisterten. Ich bin so stolz auf die Beiden. Die körperliche Anstrengung und die Konzentration, die diese Tour voraussetzte, erlösten uns für einige Stunden von unserem Schmerz, der an diesem Tag besonders präsent war, da Jesse Geburtstag hatte. In der Tiefe der Schlucht picknickten wir ausgiebig und alberten herum und wir lachten lauthals, als uns unser Echo zwischen den hohen Felswänden antwortete. Zum Leidwesen unserer Kinder sollte es nicht bei dieser einen Wanderung bleiben. Eine vierstündige Tour folgte wenige Tage später unfreiwillig an der Ostküste. Eigentlich wollten wir nur einen halbstündigen Fußweg vom Bergdorf zum Meer gehen. Unterwegs sahen wir jedoch den Einstieg zu einer wunderschönen, zweistündigen Küstentour, auf die ich nicht verzichten wollte. Unter größtem Protest folgten die Kinder schließlich. Zu unser aller Leidwesen verliefen wir uns leider so dermaßen, dass wir nach vier Stunden im Nirgendwo ankamen. Blöderweise hatte das einzige Restaurant, zu dem wir ein Taxi rufen wollten (wie gesagt im Nirgendwo), geschlossen. Na ja, wir trampten schließlich - das kannten wir ja schon zu genüge aus unserem Korfu-Urlaub. Ein sehr nettes dänisches Ehepaar fuhr uns liebenswerterweise zurück zu unserem in Deia geparkten Auto. Zur Entschädigung gingen wir anschließend mit den Kindern in eine hervorragende Tapas-Bar in Valdemossa und verspeisten eine doppelte Portion Spanferkel mit Trüffelpürree und weißen Schokoladenkäsekuchen mit Erdbeere.
Zudem habe ich es wieder geschafft, dass wir, ähnlich wie vor zwei Jahren, fast unseren Rückflug verpassten und musste somit erneut die Häme meiner Familie über mich ergehen lassen. Manches ändert sich wohl doch nie...













Eine Reise - vor und zurück

Echtzeit! 4. November 2016

Zitat Ada, 28. Oktober 2016: "Schade, dass wir nicht die Kraft haben, jemanden von den Toten zurückzuholen."

Zitat Ada, 31. Oktober 2016, abends beim Zubettbringen: "Mama, erzähle etwas über Vianne und mich - etwas Lustiges, was wir gemacht haben."

Zum vierten Mal waren wir nun auf Mallorca - und jedes Mal in einer anderen Konstellation. Es ist so skurril und unfassbar und schrecklich... Unsere erste Berührung fand 2009 statt. Luke war gerade einmal 11 Wochen, Jesse vier Jahre alt und Ada und Vianne noch nicht einmal in unseren Gedanken. 2012 kehrten wir auf die Insel zurück- mit Jesse, Luke und der dreijährigen Ada im Gepäck. Nur zwei Monate zuvor hatten wir Viannes Krebsdiagnose bekommen. Der Urlaub war schon gebucht. Also flog ich die erste Woche mit den Kindern auf die Insel, während Micha Vianne zur Chemotherapie ins Krankenhaus begleitete. Nach einer Woche tauschten wir und ich verbrachte eine innige Zeit mit Vianne in der Klinik, während Micha zu ihren Geschwistern flog. 2014 durften wir, überschattet vom zweiten Rezidiv, Wohlfühlzeit mit allen vier Kindern bei Antoni in der Cala Anguila und im Inland in der Finca in Caimari verbringen. Während der Chemotherapiezeit hatten wir Vianne versprochen, dass wir ihren verlorenen Urlaub nachholen, dass wir mit ihr auf jeden Fall noch nach Mallorca fliegen werden. Das konnten wir zum Glück verwirklichen. Ich halte gerade kurz inne und betrachte liebevoll und wehmütig Viannes Gesicht auf ihrem Buch. Das Coverfoto ist während dieses Mallorca-Aufenthaltes entstanden. Ich sehe die Szenerie noch ganz klar vor mir. Vianne sitzt am Tisch im Ferienhaus, mit Blick Richtung Bucht. Es ist früher Morgen. Sie futtert zwei Kekse, die auf einer kleinen weißen Untertasse verheißungsvoll vor ihr stehen und sie trinkt dabei einen warmen Kakao aus einer großen Tasse. Sie ist etwas genervt, weil ich schon wieder ein Foto von ihr machen möchte. Sie schaut mich halb trotzig mit diesem allzu weisen, wissenden Blick an. Ada ist noch nicht wach. Einer ihrer Brüder - ich weiß nicht mehr genau ob Luke oder Jesse - lümmelt sich gemütlich lesend auf dem Sofa im Hintergrund.
Herbstferien 2016: Luke und Ada sind dabei - Jesse und Vianne sind in unseren Herzen. Ihr Verlust wird uns immer wieder schmerzlich vor Augen geführt, bei ganz alltäglichen, banalen Dingen: Wir belegen nicht mehr eine ganze Sitzreihe im Flieger - von A bis F. (Auf dem Hinflug saßen wir dieses Mal übrigens getrennt. Ada und ich im vorderen Bereich, Luke und Micha in der letzten Reihe. Wir waren beim Einchecken  wieder zu spät dran und hatten sowieso nur den einfachsten Tarif ohne Sitzplatzreservierung gebucht. Richtig lustig wurde es, als Ada und ich uns Getränke und kleine Snacks im Flieger gönnten, mit dem Verweis an den Steward, dass die beiden "Typen auf der letzten Bank" zahlen würden. Ich hatte 'mal wieder kein Bargeld dabei.) Wir müssen nicht mehr einen großen Mietwagen mit sechs Sitzen oder aber zwei kleine Autos mieten. Eines genügt plötzlich. Es fühlt sich komisch an. Beim Gespräch mit den netten Ferienhausnachbarn gebe ich einen Restauranttipp ab und will gerade eben ansetzen, dass wir zu Jesses 15. Geburtstag dort einen genüsslichen Abend verbracht haben, als mir mitten im Satz, kurz bevor ich seinen Namen erwähne, mit Erschrecken klar wird, dass sie Jesse gar nicht kennen. so dass ich den Satz ganz schnell umformuliere, damit es nicht zu weiteren Nachfragen kommen kann: "Wer ist Jesse?" Haben Sie noch einen Sohn?" Ich will nicht irgendwelchen Leuten unsere Geschichte erzählen und dann ihre Betroffenheit mitansehen müssen. Ich will für sie einfach die ganz stinknormale Durchschnittsfamilie mit zwei Kindern sein - so richtig gruselig heileweltwerbemäßig: ein großer Bruder, eine kleine Schwester und die ach so unbeschwert glücklichen Eltern... Es fehlte nur noch das Zahnpastalächeln...
Unser diesjähriger Mallorca-Aufenthalt war nicht nur eine Reise in die Vergangenheit, sondern auch eine Reise in die Zukunft, zwar steinig und mit etlichen Stolperfallen versehen, die uns immer wieder ins Straucheln brachten, uns aber letztendlich nicht am Vorwärtskommen hindern konnten - sie verlangsamen es lediglich. Es war ein beschwerlicher, schmerzhafter Weg. Aber zumindest in die richtige Richtung, in Richtung Verarbeitung: Aufwärts. Irgendwie. Wenn auch schleppend. 
Seltsamerweise wurden wir bereits kurz nach der Landung in Palma von einer Leichtigkeit ergriffen, die wir uns nicht im Entferntesten erträumt hatten. Aber diese quierlige, lebendige Stadt belebte sogar unsere verletzten Seelen. 

Es war bereits später Abend, als wir an unserem Hostal eintrafen, das wir für eine Nacht, direkt im Herzen von Palma, nur zwei Kilometer von der Kathedrale entfernt, gebucht hatten. Wir schmissen kurz unsere kleinen Koffer - wir reisten nur mit  Handgepäck - ins Zimmer und begaben uns ins pulsierende Palma de Mallorca. Direkt um die Ecke fanden wir eine kleine Bar. Eine Gruppe junger Mallorquiner saß draußen an den Tischen. Sie palaverten und lachten. Wir ergatterten noch ein Plätzchen im Inneren und fühlten uns herrlich willkommen und irgendwie dazugehörig. Bis beinahe zwei Uhr in der Nacht saßen wir dort, aßen und tranken und scherzten mit Ada und Luke und dem Kellner. 
Obwohl wir zwei Zimmer in dem Hostal gebucht hatten, schliefen wir später alle gemeinsam in einem. Drei Betten genügten uns, und die Kinder (und auch wir) genossen die gegenseitige Nähe. Luke und Ada kuschelten sich wieder zusammen in ein Bett, wie schon auf Korfu. Am nächsten Morgen holten wir uns etliche Kaffees und Croissants aus "unserer" Bar und verspeisten die Snacks am Pool, in den Ada und ich später hineinhüpften. Im Laufe des Vormittags trafen Andi und Ralf ein, und gemeinsam machten wir uns auf den Weg zu unserem Ferienhaus an der Cala Anguila.
Fortsetzung folgt!