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Freitag, 24. Februar 2017

Sturm

Echtzeit! 23. Februar 2017
 
Der Sturm ist mir nahe, meine süße Vianne. Zwischen den einzelnen Böen und den gewaltigen Wolkenfronten, die der heutige Tag mit sich brachte, tauchten urplötzlich freie Felder mit strahlend blauem Himmel auf. Ich fühlte mich so lebendig in diesem Moment, dir so nah. "Heute ist Vianne-Wetter" durchzuckte es mich, als ich - mal wieder abgehetzt und viel zu spät - den Weg aus dem Protonentherapiezentrum Richtung Heimat - Richtung Luke und Ada fand. Du bist für mich noch immer so gegenwärtig und so lebendig... eben Vianne-Wetter. Ich sauge dich mit all' meinen Sinnen auf, du bist für mich der wohlig süßschmeckende Honig, der mir Energien zuführt.
Heute Abend fand die Generalprobe zur morgigen Karnevalsaufführung statt. Rückblick Februar 2015: Du bist gerade eben ein weiteres Mal im Primärtumorgebiet im Parietallappen operiert worden. Du hast es gepackt, der kritische Moment ist vorüber und du durftest die Intensivstation verlassen, mein starkes Mädchen. Meine Mädels stehen auf der Bühne und proben. Und obwohl ich an der Generalprobe nicht teilhaben kann, eröffnen sie mir die Möglichkeit, gemeinsam mit ihnen am Folgetag auftreten zu können.... weil sie mehr sind als eine Tanzgruppe... weil sie meine Freunde sind und ohne den Hauch eines Zweifels hinter mir, hinter uns beiden stehen. Ebendies ist in all dem Schrecken, den dein Tod hinterlässt, ein Anker, eine Verbindung zum Leben, die ich mit jeder Faser meines Körpers erfasse, während mich eine tiefe Dankbarkeit erfüllt. Heute durfte ich bei der Generalprobe dabei sein. Morgen werde ich tanzen, im Kreise meiner Freunde: für mich, für dich, für das Leben...

Sonntag, 5. Februar 2017

Kururlaub und Konfrontation

Echtzeit! 05. Februar 2017

Seit knapp zwei Wochen sind wir vier zurück von unserer "Trauerkur" im Allgäu. Allein der Begriff "Trauerkur" klingt für mich beklemmend und auch irgendwie ein Stück weit peinlich. Meine Erwartungshaltung vor Kurantritt war eher niedrig, insbesondere da ich mir anmaße zu meinen, alles Theoretische rund um die Trauerverarbeitung zu kennen und auch praktisch ganz gekonnt umsetze (auch wenn bekanntermaßen Theorie und Praxis meistens weit auseinanderliegen). Arrogant? Anmaßend? Vielleicht. Doch letztendlich kann mir nichts und niemand die Kinder wiederbringen oder den Schmerz auch nur ansatzweise lindern. Zudem weiß ich ziemlich genau, was mir wann gut tut. Deshalb hat sich aber auch mein Unterbewusstsein  im Herbst 2016 gemeldet - und mir aufgezeigt, dass ich langsam aber stetig immer kraftloser und müder werde. Dieser Zustand zeichnete sich zum Jahresende immer deutlicher ab. Daraufhin habe ich den Kurantrag gestellt und darauf beharrt, möglichst bald, nämlich gleich zum Jahresbeginn, die Kur anzutreten. Ich brauchte Ruhe und ich war mir der Tatsache bewusst, dass ich mich nur in einer Ruhephase fernab vom (Arbeits-)Alltag mit etlichen Überstunden, zahlreichen Verabredungen, Kochen, Einkaufen, Hobbys, Schule etc. der Trauer stellen kann und will. Ebendiese Ruhe, ein Freischaufeln rund um mich herum, habe ich mir von der Kur erhofft, um Raum zu haben für die blanke, bittere Konfrontation, gepaart mit neuen Denkanstößen. Zudem wollte ich Micha, Luke und Ada die Möglichkeit geben, neue Wege für sich zu finden. Um mich leichter auf die Trauerkur einlassen zu können, habe ich sie insgeheim als einen preiswerten Winterurlaub angesehen. Damit konnte ich auch Luke überzeugen, der überhaupt keine Lust zu dieser Maßnahme hatte. Aber die Aussicht auf drei Wochen Snowboardfahren hat ihn letztendlich motiviert, sich darauf einzulassen. 
Irgendjemand meinte es gut mit uns: einen Tag vor unserer Anreise fing es an zu schneien und hörte fast zwei Wochen nicht mehr auf, so dass wir sogar auf 1400 Metern traumhafte Pistenverhältnisse und Pulverschnee vorfanden. In der letzten Woche kamen als Krönung noch ein blauer Himmel und Sonnenschein hinzu.Während der dreiwöchigen Kur verbrachten wir zwei Wochen auf dem Berg, manchmal lediglich für zwei Stunden, manchmal bis die letzte Gondel stand. Das war der leichte Teil. Demgegenüber standen die schweren Stunden der intensiven und tiefgehenden Gespräche, geführt von einer wahrhaft kompetenten und hochsympathischen Psychologin, und die Auseinandersetzung mit mir selbst.  Ich weiß jetzt, was mich am meisten quält: Eigentlich war dieser Gedanke schon immer in mir, doch ich habe (oder wollte) nicht wahrhaben, dass er mich so bestimmt und schleichend aussaugt: Ich konnte Vianne nicht vor dem Tod beschützen. Ich konnte Jesse nicht vor dem Tod beschützen. ICH - konnte - sie -  nicht - retten, sondern nur machtlos danebenstehen. Das Gefühl, trotz all meiner Liebe, all meinen Anstrengungen, all meiner Kraft versagt zu haben...zweimal in Folge...auf ganzer Linie... ist so verzehrend und bereitet mir neben der immerwährenden Sehnsucht den größten Schmerz. Natürlich weiß mein Verstand, dass ich nicht die Macht hatte, sie zu beschützen. Niemand hat diese Macht. Und trotzdem.... Ich gehe hart mit mir zu Gericht...
Der zweite schwere und zugleich reinigende Part war die Kunsttherapie, von der ich niemals gedacht hätte, dass sie so schnell irgendetwas mit mir macht. Beim ersten Termin - ich hatte ungünstigerweise zuvor das anderthalbstündige psychologische Gespräch (es gab viel zu bereden und ich habe um die Hälfte überzogen) - bin ich zum Ende der Kunsttherapie heulend aus dem Werkraum geflüchtet. Ich kann noch nicht einmal sagen warum. Vielleicht war es zu viel Konfrontation für einen Tag. Mein Bild war weder düster noch schwer. Nur erschreckend unruhig und chaotisch. Vielleicht war es das, was mich so geschockt hat? Dieser Anblick meines inneren Chaos? Oder ist es nur das, was ich in meinem Bild sehe? Leider habe ich keine Antwort darauf, weil ich ja vor der Interpretation durch die Kunsttherapeutin - übrigens eine sehr charismatische Frau - den Raum fluchtartig verlassen habe. Beim zweiten Termin ruhte ich irgendwie mehr in mir und es hat sogar richtig Spaß gemacht. Seitdem habe ich mir schon einige Tage jeweils für 15-30 Minuten Zeit genommen und etwas aus meiner Umgebung gezeichnet. Es ist beruhigend und es macht mir nach wie vor Spaß. Ich lerne mich gerne neu kennen - es ist spannend. Am meinsten Seelenbalsam waren für mich jedoch die Allgäuer Berge und die unglaublich schöne Natur um uns herum. 









Wir alle haben von der Auszeit profitiert, hatten leichte und schwere Momente. Eines Abend brach Ada während der Kur in Steibis urplötzlich in Tränen aus, so sehr vermisste sie Vianne und Jesse. Einen anderen Abend fragte sie mich, ob sie nicht doch irgendwie wieder eine Schwester bekommen könne - am liebsten eine, die ebenso alt wie sie sei. Ada setzt sich immer häufiger mit Viannes und Jesses Tod auseinander und versucht das Unbegreifliche zu begreifen. Im Dezember hat sie mich gefragt, warum Jesse und Vianne sterben mussten. Letztens wollte sie von der Mutter einer ihrer engsten Freundinnen wissen, ob Vianne eine schlimme Krankheit hatte bzw. ob es die schlimmste sei oder ob es noch eine schlimmere gebe. Später stellte sie Micha und mir die gleiche Frage. Sie weint wieder häufiger um ihren Verlust. Mitte Dezember wollte sie schließlich wissen, warum Jesse so schnell nach Vianne gestorben sei. Ich musste schlucken, bevor ich irgendwie und recht unbeholfen versucht habe, ihr eine mögliche Antwort zu geben, nämlich dass Vianne vielleicht nicht ohne Jesse sein wollte und ihn gebraucht habe. "Das ist aber gemein von ihr", kommentierte sie entrüstet meine Worte. Ich beschwichtigte und argumentierte, dass sich Vianne ihn - wenn überhaupt - sicherlich nicht bewusst herbei gewünscht habe. Dann warf ich eine andere mögliche Erklärung ein: dass das Schicksal es vielleicht so vorgesehen hätte, dass die Geschichte vielleicht schon so vorgeschrieben gewesen sei. Da meinte sie lediglich, dass es vielleicht in der Zukunft ein Problem gegeben hätte, wenn Jesse und Vianne auf der Erde geblieben wären. Was für eine Schlussfolgerung. Zum Ende des Gesprächs mit meiner Tochter musste ich ihr und mir eingestehen, dass ich letztendlich keine Antwort habe - weder für sie, noch für mich. Erstaunlicherweise stelle ich mir die Frage nach dem "warum" nie. Sie ist für mich überflüssig, weil ich mich nicht mit etwas belasten will, worauf ich eh keine Antwort bekomme.