Rückblick: 31.07.2015 - 06.08.2015
Zitat Luke, 2. August 2015 - am Meer: "Der Wind fühlt sich jetzt ganz anders an."
Viannes Erinnerungsfest liegt erst wenige Stunden zurück. Wir sitzen im Auto, auf dem Weg zum Hof unserer Freunde, die uns dort bereits erwarten. Wir mussten Jesse überreden, ein paar Tage mitzukommen. Ich glaube, er wäre lieber bei seinen Freunden geblieben. Es ist bereits später Abend, während wir über die Autobahn fahren. Ich genieße die Ruhe während der Fahrt, lasse meine Gedanken schweifen, während Häuser, Bäume, Wolken an meinem Fenster vorbeigleiten. Ich nehme mir ein Halsbonbon aus der Tasche. Und dabei sehe ich das Diazepam - ein Notfallmittel gegen Krampfanfälle, das wir immer für Vianne griffbereit hatten, falls ein erneuter Anfall auftreten sollte. Ich erstarre. Wir brauchen das Mittel nicht mehr. Sie ist nicht mehr da. Sie wird keinen Krampfanfall mehr kriegen. "Nie mehr" hämmert es durch meinen Kopf. Ein Schatten legt sich auf meine Seele.
Erst gegen 23 Uhr kommen wir auf dem Ferienhof an und werden liebevoll von Uli und Kilian und den Kindern in Empfang genommen. Wir Erwachsenen sitzen entspannt um den Küchentisch und trinken zusammen ein Glas Ramazotti, während sich die Kinder in die obere Etage zurückziehen. Der Hof, unsere Freunde, die Kinder - sie bringen mir einen Hauch sehnsüchtig erhoffter Leichtigkeit zurück. Möge Vianne mit den Feen fliegen...
Das Erwachen am nächsten Morgen ist um so kälter. Wo ist Vianne? Sie ist das erste Mal nicht mit auf dem Hof. Ich quäle mich aus dem Bett, schleiche die Treppe hinunter, während mein Körper vor unterdrückten Schluchzern bebt. Bereits in der Küche quillen die Tränen aus meinen Augen. Ich brauche Luft. Ich muss laufen. Gehetzt ziehe ich meine Trainingssachen an, schlüpfe in meine Laufschuhe und verlasse fluchtartig das Haus. Nach dem Joggen fühle ich mich etwas befreiter. Wir genießen mit unseren Kindern und unseren Freunden anschließend ein tolles Frühstück am Meer, werfen uns in die Wellen, futtern und spielen und faulenzen. Das Meer, die Luft, die Weite entfalten ihre Wirkung. Ich werde ruhig, merke, wie meine Seele wohlig aufseufzt, diesen kleinen Moment der Zufriedenheit tief in sich aufsaugend. Im Laufe des samstags machen sich Uli und Kilian schließlich auf den Heimweg, um uns ausgiebig und ungestört Raum für Trauer, Traurigkeit und Verarbeitung zu geben. Die Zeit der Ablenkung ist zwar wohltuend, aber auch trügerisch...
Die
nächsten Tage verbringe ich mit etlichen erdnahen Arbeiten: Ich
entsteine Unmengen an Kirschen, die ich - das erste Mal in meinem Leben - zu
Marmelade einkoche. Ich mache den Disteln im Garten den Garaus, steche
voller Genugtuung auf sie ein, zerre sie gnadenlos aus der Erde und
schmeiße sie hinter die Mauer - Stunde um Stunde. Die Kinder treiben
sich in der Scheune herum, fahren Quad, gehen skateboarden oder spielen
Tischtennis.
Am
Sonntag radeln wir gemeinsam ans Meer. Es ist die gleiche Tour, die wir
vor drei Jahren gemacht haben - mit Ada und Vianne im Fahrradanhänger.
Ich sehe Vianne so oft durchblitzen. Es tut weh und es ist schön
zugleich. Sie fehlt...fehlt...fehlt. Ich fahre viel zu schnell, genieße
den Wind auf meinem Gesicht, in meinen Haaren, genieße den Wind für
Vianne. Wie gern sie es hatte, wenn ihr der Wind durch ihre Löckchen
fuhr. "Ich kann ihn spüren....", rief sie dann immer voller Inbrunst.
Wir kommen schließlich am Meer an. Ich sehe den Kiosk, vor dem Vianne
vor drei Jahren einen kleinen Wutanfall bekommen hatte, sehe sie trotzig
und weinend am Rand stehen. Ich weiß gar nicht mehr, warum sie so
wütend war, ich habe nur ihr Bild vor Augen. Ich muss schwer schlucken.
Wir schließen unsere Fahrräder ab und gehen runter ans Meer, setzen uns in den warmen Sand, den Blick aufs Wasser gerichtet. Wie immer: Welche Wohltat. Wir
futtern unsere mitgebrachten Brote. Luke bittet mich, mit ihm einen
Strandspaziergang zu machen. Wir beide ziehen los. Er will wissen, wie
das damals mit Vianne war, als wir hier waren, wie wir die Krankheit
entdeckt haben, ob es erste Anzeichen gegeben hat. Er kann sich nicht
mehr so gut daran erinnern. Ich erzähle ihm vom Besuch bei der
Kinderärztin in Oldenburg/ Holstein und anschließend beim Neurologen in
Lübeck. Er hört aufmerksam zu. Dann sagt er: "Der Wind fühlt sich jetzt
ganz anders an hier am Meer", so als ob er Vianne darin spüren würde. Er
erzählt mir, dass sie auf dem Schwarzfelder Hof (in der Nähe von Ulm),
wo wir auf dem Rückweg aus unserem Urlaub noch eine Zwischenstopp
eingelegt hatten, weil es Vianne nicht mehr gut ging, noch ganz viel mit
ihm gesprochen habe. Sie haben ganz nah beieinander auf einer Decke im
Gras gelegen und gemeinsam "Wolkenbilder" geschaut. Ja, ich nenne es
"Vianne-Wetter", wenn der Himmel so blau und die Wolken so klar und der
Wind so wild ist... An
diesem Abend gehe ich früh ins Bett. Eigentlich will ich mich nur etwas
zurückziehen. Ich schaue in Adas Amulette...in Viannes Augen. Ein Meer
aus Tränen. Alles sehnt sich in mir nach ihr. Alles sehnt sich danach,
sie zu halten, zu tragen, zu streicheln, ihr Lachen zu hören...
Am
nächsten Abend höre ich, wie Ada ihrer Vianne im Amulett erzählt, was
sie heute alles erlebt hat. Wir verbringen noch einige Tage am Meer. Aus Steinen formen wir Viannes Namen im Sand. Am Donnerstag, den 6. August 2015 fahren wir
geerdet nach Hause.Im Vergleich zum Hier und Jetzt waren wir damals, im Sommer 2015, glücklich. Wie seltsam sich das anhört... Alles eine Sache der Relation...