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Samstag, 14. Oktober 2017

Spurensuche

Wie kann ich gleichzeitig so voller Liebe, Dankbarkeit, Ergriffenheit und andererseits so voller Wehmut sein...? Das Leben ist skuril. So viele Lebenswelten laufen parallel ab und überfordern mich im unmittelbaren Vergleich. Mein letzter Eintrag war im September - Hilfe - die Uhr tickt, und ich komme nicht hinterher. Einmal mehr müsste mein Tag gefühlte 10 Stunden mehr haben, um all' meine Anliegen und Bedürfnisse zu befriedigen, um all' das Erlebte zu "Papier" zu bringen (ok Leute, es ist ein Internet-Blog, aber meine Liebe zu raschelnden, duftenden Papierseiten und zum Schmökern in handfesten Büchern ist nach wie vor ausgeprägt - ich LIEBE mein Bücherregal, weiß aber auch die Vorzüge eines Internet-Blogs zu schätzen). 
Nach dem schwierigen Gang um den Achensee kehrte keine Ruhe ein. Das Nachhausekommen ist nach wie vor schwer. Noch schwerer wurde es nach unseren diesjährigen Sommerferien, da Ada die Bitte äußerte, Viannes "Erinnerungskoffer" zu erkunden. Was für ein schöner Wunsch. Was für ein schmerzhafter und zugleich konfrontativer Wunsch..... Gemeinsam nahmen wir jeden liebevoll gestalteten Wegbegleiter aus Viannes Koffer in die Hand. Ich war so ergriffen, glücklich und traurig in einem. Gefühlte 10.000 Mal fragte ich Ada, ob mit ihr alles ok sei. Sie herzte die Kuscheltiere, schaute fasziniert auf den Feenstaub und die Holzengel - hin- und hergerissen zwischen dem eigenen kindlichen Bedürfnis, diese Sachen für sich in Anspruch zu nehmen und ihrem großen Herzen, diese Dinge für Vianne zu "verwalten". Ich liebe sie so sehr! Ada ist Ada! Pur!









 Irgendwann flossen meine Tränen und ich spürte, dass auch Ada wankte. Sie entschwand im Garten und es war so greifbar, dass die Erinnerungsreise ihr Herzchen überforderte. Am nächsten Tag kroch der Schmerz aus ihr heraus - pur und brachial. Sie hatte Matheaufgaben auf. "Das ist freiwillig!", schnauzte sie mich mittags an. "Die muss ich nicht machen!", sprach sie und schaute trotzig aus dem Fenster. "Nun ja, Madame, du bist nicht in der komfortablen Situation, auf etwas Wiederholungsarbeit zu verzichten", rief ich ihr ins Gedächtnis. Ich bot ihr einen Kompromiss an: die Hälfte der Aufgaben oder einen alternativen Arbeitszettel von mir. Schnaufend setzte sie sich an den Küchentisch und  begann, die Aufgaben zu bearbeiten, bis sie mir schließlich alles entgegenwarf und sich stampfend in ihr Kinderzimmer verkroch. Ich war so wütend, dass ich genau wusste: wenn ich ihr jetzt folge, eskaliert die Situation. Also verzog ich mich zum Durchatmen auf die Terrasse. Ihr Kinderzimmer liegt direkt darüber. Das Fenster stand auf Kipp. Ich konnte hören, wie sie Gegenstände durch ihr Zimmer pfefferte und herzergreifend weinte. In diesem Moment wurde mir klar, dass nicht die Matheaufgaben hinter ihrem Schmerz steckten. Die brachten ihre Seele lediglich zum Überlaufen. Sie wusste nicht, dass ich sie hören konnte. Sie schrie. Sie brüllte. Komplett außer sich. Gefangen in ihrer Sehnsucht. Ich hörte sie brüllen: "Vianne!!! Komm sofort zurück. Ich schaffe es nicht ohne dich. Es ist zu viel. Viiiaaannne! KOMM WIEDER!" Adas Schmerz ist mein Schmerz.... Ich gönnte mir zehn Minuten Tränen.... dann ging ich zu ihr ins Zimmer. Sie lag auf ihrem Bett, hatte Viannes Foto aus dem Bilderrahmen genommen und hielt es ganz eng an ihre Brust gepresst, um sich herum etliche gesammelte Erinnerungsstücke von Vianne drapiert. Das Zimmer ein einziges Chaos - überall verteilt ihre Lieblingssachen, die sie voller Wut und Schmerz durch den gesamten Raum gepfeffert hatte. Ich wiegte sie minutenlang in meinen Armen... Ihr Schmerz ist mein Schmerz.... Schluchzend erzählte sie mir, dass sie ihr gesamtes Taschengeld "und noch mehr" hergeben würde, wenn Vianne nur wiederkäme... auf der einen Seite war ich so dankbar, dass sich ihr Schmerz Bahn brechen konnte... auf der anderen Seite war ich so heillos überfordert. Ihr Schmerz ist mein Schmerz... Die Verarbeitung ist wichtig... Auch Ada fühlt die Amputation als Zwilling: "Mama, irgendwas fehlt mir beim Einschlafen... aber ich weiß nicht genau was...ich glaube, ich möchte nicht allein einschlafen" (Ada und Vianne hatten immer ein Zimmer gemeinsam und haben sich auch zusammen ins Krankenhausbett gekuschelt). Auf die Frage im Freundebuch: "Was wünscht du dir am meisten?" lautete Adas Antwort: "Das Vianne wieder hier ist - und das wir beide (Antonia und sie) immer Freunde bleiben." Und kurz darauf sehe ich sie in ihrer jeansblauen Latzhose über die Wiese preschen und die Welt umarmen...  Ich sehe Luke und Ada nebeneinander, zielstrebig, kraftvoll durch das Wattenmeer wandern  - den beiden kann so schnell niemand mehr etwas vormachen - auch wenn sie noch reifen müssen ... und ich bin voller Ergriffenheit und Stolz auf diese beiden starken Kinder. 

Vianne hat uns übrigens einen Gruß in Cuxhaven - in der Wohung, die der  Elterntreff für leukämie- und tumorerkrankte Kinder Dortmund zur Verfügung stellt - hinterlassen. Tief versteckt unter den Veranstaltungsprospekten haben wir ihr "Krickel-Krackel-Prinzessin-gesucht"-Malbuch gefunden. Im Einband stand ihr Name, aber ich hätte es sowieso wiedererkannt. Sie muss es 2014 dort vergessen haben, als sie nur wenige Tage nach ihrer Rezidiv-OP voller Tatendrang durch Schlick und Watt gerannt ist,  Sandburgen gebaut und trotz kaum verheilter Narbe auf dem Trampolin Salti gesprungen ist und sich ins Meer gestürzt hat. Ich war nicht traurig in diesem Moment - nur ergriffen. Danke, kleine Maus, für deinen Gruß... Danke für deine Spuren...