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Sonntag, 8. Dezember 2019

Tage wie dieser

Es gibt Tage, in die möchte man sein gesamtes Leben hineinlegen. Tage, an denen dein Herz weit ist und dein Verstand folgt. Heute war so ein Tag. Im Kreise meiner engen Freunde haben wir uns zum mittlerweile traditionellen Weihnachtsbaumschmücken getroffen. Wir haben getanzt, getrunken, gelacht, gemeinsam nachgedacht und daraufhin noch mehr getanzt. 

Ich werde meine Freunde vermissen auf unserer Reise um die halbe Welt. Aber ich werde jeden einzelnen mitnehmen. Doch ganz oben im Gepäck sind Jesse und Vianne. Mein Versprechen gilt. 
Ich habe kraftraubende Tage hinter mir: eine meiner kleinen Patientinnen, der ich emotional sehr nahe stand, ist verstorben, eine andere hat eine infauste Prognose - sechs bis zwölf Monate schweben im Raum... und ich möchte in den sechs Wochen, die ich sie begleiten darf, dazu beitragen, dass es eine lebenswerte Zeit wird. Zeit! Sie rast momentan. In nur wenigen Wochen sind wir unterwegs - wohin auch immer. Es ist gut, dass wir aufbrechen. Wie hat es Luke treffend umschrieben? "Danke, dass ihr eine Tür öffnet, um mal auszusteigen..." Seine Freunde haben ihm eine Kette geschenkt - mit Viannes und Jesses Inititalen eingraviert. Das ist Leben und dafür bin ich dankbar. Immer wieder überfordern wir Ada und Luke im Alltag und wägen uns in dieser trügerischen Sicherheit  der Zeit.. Und dann kommt dieser Abend, an dem Ada sagt: "Ich fühle mich in meinem Zimmer nicht wohl, bei euch ist es besser." "Warum fühlst du dich nicht wohl bei dir?", frage ich sie. "Ich bin allein dort!", sagt sie, während sich ein See der Trauer in ihren Augen spiegelt. "Wenn ich früher einmal nicht einschlafen konnte, wusste ich, dass Vianne in meiner Nähe liegt... jetzt bin ich allein in diesem Raum...." 
 
Adas neues Türschild...

Ich habe versucht, ihr Zuversicht zu schenken, habe ihr erklärt, dass Vianne sie so sehr geliebt hat, dass sie gar nicht weg sein kann, vielleicht physisch, aber nicht vom Gefühl her. Und dennoch fielen meine Tränen auf sie herab, weil ich Viannes physische Präsenz ebenso vermisse wie Ada. Doch wo Schatten sind, ist auch Licht. Eine gute Freundin schickte mir diese Zeilen:

"When I die give what's left of me away
to children and old men that wait to die.
And if you need to cry,
cry for your brother walking the street beside you.
And when you need me, put your arms around anyone
and give them what you need to give me.

I want to leave you something,
something better than words or sounds.
Look for me in the people I've known or loved,
and if you cannot give me away,
at least let me live in your eyes and not in your mind.

You can love me best by letting hands touch hands,
and by letting go of children that need to be free.
Love doesn't die, people do.
So, when all that's left of me is love,
give me away.

(Meditations befor Kaddish)

In diesem Sinne... Gute Nacht!

Samstag, 23. November 2019

"Dir will ich alles schenken..."

Wenn ich Vianne eine Stadt zuordnen müsste, würde ich ohne zu zögern Paris wählen. 

Sie wollte so gerne noch kurz vor ihrem Tod dorthin reisen, aber wir haben es nicht mehr geschafft. Die Zeit - sie ist uns einfach davongerannt und hat Viannes letzte Kraftreserven mit sich genommen, obwohl sie doch über solch eine unglaubliche Energie verfügt hat - nur eben nicht grenzenlos. Heute schmerzt mich der Gedanke, dass sich Vianne und Paris nie begegnen durften. Warum haben wir nicht alles daran gesetzt, ihr diesen Wunsch zu erfüllen??? Die beiden hätten sich auf Anhieb gemocht, hätten sich, um sich nicht die Blöße zu geben, kurz mürrisch gemustert und taktiert und sich dann für immer unzertrennbar verwoben. Da bin ich mir seltsamerweise absolut sicher.

Vianne und Paris sind für mich in vielen Aspekten deckungsgleich. Paris ist elegant und patzig-arrogant in einem. Es hat, trotz all seiner Präsenz und Popularität, so wunderbar verborgene, verwunschene Ecken, die sich nicht jedem auf Anhieb offenbaren. 

Paris verzaubert, ebenso wie Vianne verzaubert hat, ohne jemals das Bedürfnis gehabt zu haben. 


"Eine seichte Berührung von dir, 
zart wie ein Flügelschlag, 
ein Blick, ein Wort, ein Lächeln - 
und du hast die Menschen berührt, 
ganz tief in ihrem Innersten." 

Paris und Vianne berühren beide. 


Paris ist lebendig-bunt, verrückt, pulsierend. Paris ist leise. Es lässt das Herz vor Wonne hüpfen und gleichzeitig wehmütig sehnsuchtsvoll pochen mit einer Prise Melancholie. Paris ist eine alte Seele. Und Paris ist renitent-modern. 

Paris wird sich hoffentlich nicht irgendwann selbst auffressen. Die äußeren Arrondissements strecken ihre schmutigen Tentakel ins Zentrum vor, um äußerst brachial auf sich und ihre vielfältigen, von der Politik lange bewusst übersehenen Probleme aufmerksam zu machen, ähnlich wie sich Viannes Tumorzellen - ein Teil ihrer Selbst -  ins pulsierende Zentrum vorgefressen und eine Spur der Verwüstung hinterlassen haben - und letztendlich zur vollständigen Zerstörung geführt haben. Ich hoffe von Herzen, dass Paris nicht das gleiche Schicksal erwartet... das rechtzeitig ein Heilmittel gefunden wird.
Vor wenigen Wochen sind Micha und ich für ein Wochenende zur Geburtstagsfeier meiner lieben Uli nach Paris gefahren, direkt ins Herz, ins quartier Marais. Der Himmel so blau, die Seine träge vor sich hinfließend, während das Leben in den Straßen pulsierte. Mein Herz hüpfte bereits bei der Anfahrt auf die Bastille und ich meinte zu Micha, dass wir am besten den ganzen Tag und die Nacht "durchmachen", um keine einzige Sekunde von Paris zu verpassen. 

Erst um 5 Uhr morgens, nachdem wir das quartier ausreichend erkundet und erspürt hatten, intensiv gefeiert und uns zum Abschluss mit liebenswert-lustigen Menschen singend und tanzend Richtung Hotel bewegt hatten, konnte ich müde-zufrieden aufs Kissen sinken. Ich hatte Paris in mich aufgesogen - hatte es für Vianne eingeatmet. Ich sah sie in ihrem schicken Mantel vor dem Hotel de Ville herhüpfen, während sie mich verschmitzt angrinst und vertraut ihre kleine Hand in meine schmiegt. Was für tiefe Sehnsüchte Paris in mir weckt... Jedes Mal macht die Stadt etwas mit mir. An diesem Wochenende hat sie sich Vianne und mir von ihrer schönsten Seite gezeigt. 

"Manchmal ist es so, 
als ob das Leben 
einen seiner Tage herausgriffe
und sagte: 'Dir will ich alles schenken!
Du sollst ein rosenroter Tag werden,
der im Gedächtnis leuchtet, 
wenn alle anderen vergessen sind.' " 
(Astrid Lindgren)


Früher habe ich Paris häufiger besucht, einmal sogar über mehrere Wochen. Ich weiß gar nicht, was mich nach der Geburt der Kinder davon abgehalten hat, Paris aufzusuchen? Die Liebe war ungebrochen vorhanden, aber irgendwie geriet die vertraute Stadt zwischenzeitlich auf das Abstellgleis. "Wir haben alle Zeit der Welt, dich gemeinsam mit den Kindern zu besuchen." Welch trügerische Fehleinschätzung... Vianne wird Paris niemals kennenlernen. Deshalb habe ich dieses Wochenende für sie mitgelebt - pur, ausgiebig, mit offenem Herzen, verrückt, wild, besinnlich
Wir reisen weiter mit dir, Vianne....

Freitag, 27. September 2019

Aufbruchstimmung

Meine Süße, ich schreibe gerade ziemlich viel in Jesses Blog und versuche, durch den September und Oktober zu kommen, arbeite mega viel und bin häufig einfach nur erschöpft, und dabei möchte ich auch noch präsent sein für Luke, Ada und Micha. Deshalb entschuldige, dass ich mich so lange nicht mehr gemeldet habe. Aber gedanklich bin ich jeden Tag bei dir. Versprochen! 
Bist du bereit für ein Abenteuer, mein kleiner Draufgänger? Mit Sicherheit, so wie ich dich kenne. Selten habe ich ein tapfereres kleines Mädchen mit solch unbändiger Energie erlebt. Obwohl ich vielen tapferen kleinen und großen Menschen in meiner Arbeit begegne. 
Ich möchte mich nicht im Gestern verlieren. Auch wenn die geschenkte Zeit mit dir solch eine süßlich-herbe Faszination auf mich ausübst, dass ich manchmal nur mit äußerster Anstrengung aus der Vergangenheit zurückkehren kann. Ich liebe das Hier und Jetzt. Pur. Intensiv. Ich sauge die Welt auf für dich und Jesse und mich. Wir sind in Aufbruchstimmung. Die ganzen Jahre über seit deinem Tod fühlte ich mich in diesem anhaltenden Prozess der Trauer und Erkundung, Hinterfragung und Faszination vom Leben und Sterben blockiert. Irgendetwas fehlt, damit wir weiter gehen können. Jetzt machen wir uns auf den Weg - wider aller Vernunft - wider aller Regularien -  geboren aus einem unbeschwerten Abend bei einem genussvollen Glas Wein und packen unseren Rucksack. Wir gehen für längere Zeit weg, um zurückzukehren. Wir gehen weg, um deine Geschwister, uns, dich und Jesse noch intensiver zu erleben. Wir haben so viele Fragen. Ich glaube, nur die Natur, ihre Gesetze und die Naturvölker können uns innerlich zur Ruhe kommen lassen. Wir werden die Welt erkunden. Wir sind ganz nah dran: Bald geht es für mehrere Monate nach Thailand und Australien - und zum krönenden Abschluss zum Ski- und Snowboardfahren in die Berge Südtirols. Glaubst du, der Wind fühlt sich auf der anderen Seite der Erdkugel ähnlich an? Glaubst du, dass das Salzwasser den gleichen Geschmack haben wird?  Glaubst du, dass die Sterne ebenso hell auf der Südhalbkugel funkeln werden? Eines steht fest: Wir lassen uns gemeinsam von Wind und Wellen die Haare zerzausen und springen lachend und voller Demut, etwas Wehmut und ganz viel Übermut durchs Leben. Ich liebe dich!



Sonntag, 11. August 2019

Aufstiege und Abschiede

 Es ist der 24. Juli 2019 - kurz nach Mitternacht. Wir sind gerade in Pozza di Fassa in Südtirol,  während du zum fünften Mal stirbst. 


Ich bin ganz nah bei dir, mein kleiner Wirbelwind. Während Luke, Ada und Micha im Zelt schlafen, verlasse ich in der Dunkelheit den Campingplatz und fliehe vor der Schmerzwelle zum nahe gelegnen Fluss, lausche in der Dunkelheit dem Rauschen des Wassers, während sich meine Seele nach dir verzehrt und dich zugleich fließen lässt. 
Tags zuvor haben wir Teile des Rosengartens erwandert. 





Aber ich will höher. Zu dir. Zu Jesse. An deinem Todestag ruhen wir uns aus und verbringen einen chilligen Tag an einem Gebirgsbach. Der Tag plätschert vor sich hin, ähnlich wie unsere Holzstücke, die wir in den kalten Fluss werfen, lassen wir uns treiben. Jeder von uns bastelt etwas für dich: Micha schnitzt ein kleines Holzherz, Luke legt ein kleines Kunstwerk aus Naturmaterialien. 


Ich fotografiere verschiedene Dinge in der Natur - einen filigranen Falter, ein sonnendurchflutetes Blatt, einen Stein im Flussbett, eine farbintensive Blüte - und schreibe im Bildbearbeitungsprogramm auf diese Elemente der Erde, des Wassers und der Luft deinen Namen. Ich sehe dich in all' diesen wunderbaren Dingen, mein Schatz. 


 Ada sucht Harz, das sie in einer eigens hergestellten Form aushärten lassen möchte. Emsig sammelt sie das Harz an den verschiedenen Bäumen, doch leider klappt ihr Vorhaben nicht. Sie ist so enttäuscht, da sie dir etwas Einzigartiges und Beständiges fertigen wollte. Ich tröste sie, denn ich weiß, dass DU ein Teil von ihr bist. Sie braucht dich. Sie fühlt sich so verlassen, gerade jetzt, wo sie - getrennt vom Großteil ihrer Freunde - auf die weiterführende Schule wechselt. Dieser Abschied vom Altvertrauten fällt ihr schwer. Wenn du doch nur an ihrer Seite gehen könntest.... Noch immmer zerreißen mich solche Bilder. 

Am nächsten Tag setzen wir einen lange gehegten Wunsch in die Tat um: Wir sind gemeinsam mit Luke und Ada unseren ersten Klettersteig im Hochgebirge angegangen. Bis auf 2800 Meter hat es uns verschlagen - und wir waren dem Himmel ein ganzes Stück näher. Wir haben dich und Jesse zum Gipfelkreuz getragen und  im Gipfelbuch verewigt. Ich liebe diese Adrenalinschübe. Ich liebe die körperliche Anstrengung, die Herausforderung der schwierigeren Passagen, die Weite und Erhabenheit der Berge um mich. Mit unserem Bergführer Alberto waren wir gleich auf einer Wellenlänge. Jodelnd und mit den Murmeltieren um die Wette pfeifend brachte er uns die Dolomiten nahe. Ada und er waren gleich "best bodys", denn sie erklomm wie eine kleine, wendige und äußerst trittsichere Bergziege die schwierigsten Passagen. Nach dem Klettersteig ließen wir den Spätnachmittag gemütlich mit Alberto auf der Berghütte einer Freundin ausklingen. Er erzählte uns von seinen kleinen Drillingen, er erzählte uns von der Chefin der Berghütte, die ihren Mann bei einem Bergunfall verloren hatte und tapfer die Stellung hält... und wir erzählten von dir. 
















Nach einem heiteren Abstecher zu Freunden in Meran und Wasserburg am Inn ging ein sehr schöner Urlaub seinem Ende entgegen. Vor unserer Zeit in Südtirol hatten wir zuvor eine entspannte Woche auf Sardinien verbracht und uns von Wind, Sand, Felsen und Wellen mitreißen lassen. Durch diesen Urlaub wurden unsere Akkus wieder aufgefüllt. 













Kurz vor unserem Urlaub musste ich noch einen Artikel für die Zeitschrift "Wir" der Deutschen Kinderkrebsstiftung fertigzustellen. Blöderweise hatte ich mich im Vorfeld nicht genau mit meiner Chefin über die Ausrichtung besprochen, so dass ich einen anderen Fokus  gelegt hatte. Nach fleißiger Wochenendarbeit lieferte ich den Text am folgenden Tag ab, erleichtert, alles noch just in time fertigbekommen zu haben. Die Ernüchterung folgte am Dienstagmorgen. Ich bekam die Mitteilung, dass ich den Text noch einmal komplett überarbeiten müsste, da eine viel breitere Ausrichtung gewünscht war. Ich war eh schon mental angeschlagen (siehe letzter Blogeintrag).  Ich zweifelte an meinen schreiberischen Fähigkeiten, zweifelte, ob ich überhaupt die Richtige in meinem Job bin. Zudem erfuhr ich parallel, dass eine meiner kleinen Patientinnen kurz zuvor in der Schweiz verstorben war. Ich ging in eine verfrühte Mittagspause, verkroch mich im Wald und konnte meine Tränen nicht mehr stoppen. Dann schniefte ich dreimal durch und arbeitete bis in den späten Abend an dem Artikel. Er ist letztendlich gut geworden, auch dank des förderlichen Austausches mit einem Kollegen. Kurze Zeit später, bei Adas Verabschiedungsfeierlichkeiten in der Grundschule, gab es dann noch einen weiteren deep impact. Meine Gedanken flogen in die Vergangenheit.


 Hier, am selben Ort, ist Ada vor vier Jahren eingeschult worden, nur wenige Wochen nach deinem Tod, kleine Vianne. Wir stark und stolz und zugleich verlassen sie damals in der großen Turnhalle stand, ohne dich an ihrer Seite. Die ehemalige Rektorin richtete damals noch anteilnehmende Worte an uns, nachdem die Klassenlehrer mit ihren kleinen Schülern in ihre Klassenräume entschwunden waren. Die Lehrer hatten dich beim Schulspiel vor der Einschulung kennenlernen dürfen, kleine Vianne - und du warst bezaubernd wie immer. Ich kann es noch immer nicht glauben, wie mutig Ada durch diese vier Schuljahre ohne dich gegangen ist. Ihr wart zuvor noch nie getrennt gewesen. Adas neuer Schulrucksack steht nun in ihrem Zimmer und wartet auf weitere Abendteuer auf dem Gymnsium. Dein ungetragener Tornister steht unangetastet unten im Raum... Eigentlich wollten wir ihn spenden, aber ich habe es letztendlich nicht über das Herz gebracht, ihn abzugeben. Zu präsent sind die Bilder, wie du diesen Tornister stolz zuhause vorgeführt hast.
Ja, ich brauchte dringend Urlaub... Noch am selben Abend brachen wir auf Richtung Genua... gepackt war natürlich bis zum Nachmittag noch nichts.
Meine zauberhafte Vianne: Hier ist noch ein weiteres Geschenk von mir für dich. Ein sehr feinfühlig-fähiger Redakteur hat dich ein Stück zurück ins Leben geholt. Der Artikel resultiert aus der Lesung in Hennen. Ja - du und ich - wir waren zusammen in deinem ehemaligen Kindergarten.

Ich liebe dich und werde dich immer in mir tragen - meistens unsichtbar für die Welt um uns herum.

Montag, 24. Juni 2019

Ein Durcheinander der Gefühle

Echtzeit! 3. Juni 2019
Man nehme 500 g des Buches "Wunschgeschichten für beste Freunde", 2-3 Becher alte Videos und dazu eine Prise "Scheißtag". Dann verquirlt man alles kräftig und gibt die gesamte Masse in eine Backform. Anschließend stellt man den Ofen auf 180 Grad Vergangenheit und backt alles vier Jahre, bis man so was von gar ist.
Super Rezept! Viel mehr als diese paar "Zutaten" hat es nicht gebraucht, um mich heute in einen völlig desolaten Zustand zu bringen. Nicht, dass sich das Desaster nicht schleichend angekündigt hätte... Schon Tage zuvor brachen kleine Anzeichen des unendlichen Vermissens durch. Dünnhäutig, gereizt und antriebslos ging's durchs den Alltag, jede noch so kleine Aufgabe stellte ein Höchstmaß an Anstrengung dar. Irgendwann fand ich mich vor unserem Regal mit den zahlreichen Kinderbüchern. Direkt neben "Wir Kinder aus Bullerbü" stand eines von Viannes Lieblingsbüchern: "Wunschgeschichten für beste Freunde". Über verschiedenfarbige bewegliche Ringe stellt man Symbole ein: Apfel - Igel - Leiter - Schnuffeltuch. Jedem der zahlreichen und unterschiedlichen Symbole in diversen Kombinationen ist eine Geschichte zugeordnet, in dem ebendiese Elemente vorkommen. Ada und Vianne konnten gar nicht genug von diesem Buch bekommen. "Mama, lass uns nur noch einmal drehen... Biiiiittte!", flehten die beiden ein ums andere Mal, während wir drei uns abends gemütlich ins Bett gekuschelt hatten. Ada ist aus dem Buch herausgewachsen. Vianne durfte nicht wachsen...
Ich will Vianne!! Ich lausche ihren Worten in den zahlreichen Videos, die ich mir in Endlosschleife reinziehe, analysiere jedes noch so kleine Detail in der Hoffnung, etwas noch nie Gesehenes wahrzunehmen. Ich sauge ein Leben auf, das vorbei ist. Und zeige allen den prächtigen Mittelfinger, die mich davon abhalten wollen und mir mit Motivationssprüchen und Appellen an Vernunft und Verantwortung kommen wollen wie: "Du hast nur dieses eine Leben", "Leben geht nur vorwärts, nicht rückwärts". Zwar sagt das nie jemand zu mir (außer dass ich mich mit solchen Gedanken manchmal selbst pushen möchte), aber es sollte mal einer wagen. In meiner jetzigen Stimmung wünsche ich mir geradezu inbrünstig jemanden, der noch einen weiteren vor Zuversicht und Tiefgang triefenden Motivationsspruch hervorkramt. Was für eine Genugtuung es doch wäre, auszuflippen und (verbal) draufzuschlagen.

Echtzeit! 19. Juni 2019
Seit Tagen reift eine Idee heran... eine verrückte Idee, geboren aus dem Durcheinander der Gefühle, dem Schwanken zwischen Hoffnung und Verzweiflung - Energie und Antriebslosigkeit - Lebendigkeit und Starre - Mut und Verzagtheit - Abenteuerlust und Vernunft. Die Chancen auf Realisierung stehen nicht gut, also ehrlich gesagt sogar schlecht. Doch schrittweise arbeiten wir uns heran und machen aus der Idee einen Plan - und die Aussicht allein beflügelt und lässt aufleben...

Echtzeit! 24. Juni 2019
Heute will ich nicht nach vorne gucken - ich weigere mich. Ich weigere mich, positiv zu denken und freundlich-funktional zu sein. Heute will ich mich vergraben, begraben in der Vergangenheit, will mich in den süßlich-schmerzhaften Erinnerungsfetzen ertränken.. 
Heute bin ich Wut und Neid, Lethargie und Launenhaftigkeit in einem. Nein! Ich will nicht die Scheiß-Blumen auf ihrem Grab gießen. Es ist nur ein Grab und meinetwegen kann dort alles verdorren. Es ist nicht Vianne. Es ist nur ein Ort. Nur ein Ort, an dem sie nie gelebt hat. Ein Ort für die anderen, um ihre Verbundenheit auszudrücken. Und somit doch auch irgendwie ein Ort, der mich berührt. Trotzdem will ich heute keine Blumen gießen. 
Für mich ist Vianne eher in unserem Zuhause erlebbar: Wir hatten in der Küche einen kleinen Kindertisch stehen. Sie hat dort ihr "I feel good"-Schaf tanzen, singen und wackeln lassen, bis es auf den Boden geplumpst ist. Sie hat dazu getanzt und uns schließlich in einem lustigen Mix aus Kichern, Wut und Empörung kundgetan, dass sie dabei nicht gefilmt werden wolle. Hier zuhause ist sie lebendig. Hier hat sie gelebt. Hier lebt sie weiter, auch wenn mir das Leben mit ihr mittlerweile eher wie ein schöner Traum vorkommt und häufig nur noch surreale Dunstschleier durch die Räume wabbern. 
Ada hat sich heute wieder das kleine Kissen von mir stibitzt, das Vianne noch kurz vor ihrem Tod von Uli geschenkt bekommen hat. Die türkisfarbene Seite zeigt eine Sonne, die graue Seite Regentropfen. Ada hat sich das kleine Kissen in ihr Bett geholt und sich ganz eng zum Einschlafen daran geschmiegt. Ich hatte dabei meine Hand auf ihrem Herz und habe jeden einzelnen Herzschlag aufgesogen. Ich hatte meine Hand auf Viannes Herz, als es aufgehört hat zu schlagen...Ich weiß, wie es sich anfühlt...das Nichts, das Erstarrte, das Leblose...
Heute bin ich Wut und Neid, Lethargie und Launenhaftigkeit in einem. Heute bin ich Trauer. Und morgen geht es gestärkt weiter...

Donnerstag, 25. April 2019

Ohne... zwischen Traurigkeit und Glück

Echtzeit! 25. April 2019

Zitat Ada - nachdenklich: "Ich habe nun schon fast die Hälfe meines Lebens ohne Vianne verbracht..."

ja! ...und sechs Jahre mit ihr... Sechs wertvolle Jahre, zu denen ich mich mit jeder Faser meines Körpers und mit jeder Facette meines Wesens zurücksehne - sogar zu den schmerzhaften Momenten. Warum? Weil Vianne einfach da war. Weil ich sie drücken, halten und streicheln konnte. Weil sie mit ihrem ganzen Wesen anwesend war.Was für ein egoistischer Gedanke! Dabei bin ich absolut dankbar, dass IHR Schmerz nicht dauerhaft ist. Für sie bin ich gerne Schmerz und Glück und Dankbarkeit in einem.
Wieder ist es für mich ein Spagat zwischen tiefer Traurigkeit, die mir die Kehle zuschnürt und die Tränen in die Augen drückt, und einem unbändigen Glücksgefühl, dass wir heute Adas Geburtstag feiern dürfen. Ich liebe ihre Lebendigkeit und diese unverfälschte Freude, die sich in ihren Augen widerspiegelt. Dieses Horchen, ob wir frühmorgens bereits mit Geburtstagskuchen und brennenden Kerzen flüsternd vor ihrer Zimmertür stehen, um sie schließlich mit einem lauten, aber schrägen "Happy Birthday" in ihren Geburtstag geleiten, während sie schon ganz zappelig in ihrem Bett liegt und sich all die Geschenke erhofft, die sie uns mitgeteilt hat. Es ist wunderbar und einzigartig - eine Vorfreude, die die meisten Erwachsenen gar nicht mehr kennen oder an die sie sich nur noch dunkel erinnern. 
Ja, selten liegen Trauer und Glück so nah beieinander wie an Adas und Viannes Geburtstag.  Ich hatte ehrlich gesagt bis heute Morgen noch kein Geschenk für Vianne (bis auf eine eigens verzierte Kerze, die ich gestern Abend zusammen mit Adas Kerze  hergerichtet hatte) - und während es mir bewusst wird, bin ich so dermaßen beschämt, dass ich Schlucken muss und mich am liebsten davonschleichen würde. Aber was - um Himmels Willen - schenke ich meinem Kind, wenn es nicht mehr körperlich anwesend ist. Ihr Grab ist voll mit Muscheln und Steinbotschaften, zauberhaften Elfen und bunten Blumen. WAS gebe ich ihr mit?????? Kein Leuchten wird sich in ihren toten Augen zeigen, kein schelmisches Lächeln um ihren Mund spielen... Also schenke ich ihr meine uneingeschränkte Liebe. Mein Herz. Meine Gedanken und meine Sinneseindrücke, wenn ich für sie dem leisen Klackern der Kieselsteine am Strand lausche, die von den Wellen hin und hergerollt werden. Ich sauge für sie den Duft von Rosmarin und Thymian auf, streiche mit meinen Händen über die Grashalme  und lasse meinen Blick über die Steilküste Mallorcas gleiten... Ja, Mallorca...




Es ging wieder alles so schnell, so unorganisiert und improvisiert, so Nicole eben. Denn auch Adas Geschenk wurde erst am Vorabend ihres Geburtstages fertiggestellt. Sie hat nun mit 10 Jahren ein Handy - mein altes Smartphone - von uns geschenkt bekommen. Nur blöderweise hatte ich den Code für die Tastensperre vergessen. Aber Micha hat es glücklicherweise gerichtet. Ich mit meinem mangelnden Technikverständnis würde immer noch dümmlich sabbernd und schwitzend vor der Internetanleitung hängen. Denn gestern Morgen waren wir noch auf Mallorca und - welch Wunder - wir haben sogar rechtzeitig unseren Flieger gekriegt und mussten nicht wieder rennend und keuchend und fluchend (sobald die Puste wieder da ist) ins Terminal D schliddern, wie noch im Herbst 2014 mit Vianne auf dem Arm. Natürlich hatten wir auch dieses Mal wieder das Gate gaaaanz weit hinten, aber es blieb noch Zeit für Kaffee, Croissant und letztem Pipigang. Wir sind mit Jesse und Vianne im Gepäck über die Insel gewandert, haben staunend die vom Wind aufgepeitschten Wellen beobachtet, die donnernd an die Felsküste krachten und haben uns bei mageren 16 Grad Celsius fröstelnd ins Wasser vorgetastet. Wir sind an unsicheren Seilen auf alte Wehrtürme gekrochen, um atemberaubende Landschaftseindrücke zu ergattern und haben uns, sobald sie auftauchte, die Sonne in Nacken und Gesicht scheinen lassen. In Sant Elm haben Ada und ich am Strand gemeinsam Viannes Namen mit Kieselsteinen in den Sand geschrieben. Gerade als der letzte Balken des E fertig geworden war, schwappte eine kräftige Welle hinüber und würfelte die dicken Steine durcheinander. "Vianne wollte uns wohl ärgern", lautete Adas schelmischer Kommentar. 


Heute, am späten Nachmittag, bevor Andi und Ralf eintrafen, habe ich Viannes Grab besucht und ihr vor Ort eine Geburtstagskarte geschrieben.. Ich habe die kleine Spieluhr "Somewhere over the rainbow" leiern lassen - unglaublich, dass sie auch nach fast vier Jahren noch eine Melodie hervorbringt. Eine Kerze konnte ich nicht anzünden, weil ich das Feuerzeug vergessen hatte... Nicole eben. Während ich das kleine Herzblumenblatt aus unserer Küche eingebuddelt habe, hatte ich plötzlich das überstarke, irrationale Bedürfnis, immer tiefer und tiefer graben zu müssen und Vianne dort raus zu holen... 

Zwei Stunden später haben Andi und Ralf, Micha, Luke, Ada und ich schwitzend und kichernd Verstecken durchs ganze Haus gespielt und uns unter unseren Sitzsack und  Kleiderbergen in Lukes Schrank versteckt... ein Spagat zwischen Traurigkeit und Glückseligkeit, unterlegt mit einem Hauch Irrsinn.

Happy Birthday, Vianne. Lass den Regenbogen flimmern und schimmern und nimm Ada heute fest in den Arm. Beim Einschlafen hat sie sich so sehr nach dir gesehnt: "Ich habe nun schon fast die Hälfe meines Lebens ohne Vianne verbracht..." 



Meine tapferen Zwillinge. Ich bin so voller Stolz auf euch beide. Happy Birthday Ada und Vianne! Für immer zusammen, und doch entzweit... Es tut mir so leid!