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Sonntag, 28. Januar 2018

Leuchtende Rosenblüte

Echtzeit! 26.01.2018
Dresden präsentiert sich im grauen Nieselregengewand bei meinem Besuch am vergangenen Freitag. Ich hatte mich mit einer Kollegin aus der Kinderonkologie zum Fachaustausch getroffen und mir das Dresdner Protonentherapiezentrum angeschaut. 


Ein anschließender Besuch der Dresdner Altstadt und lieber Freunde, die wir damals während der Familienreha auf Sylt kennengelernt hatten, durfte nach getaner Arbeit nicht fehlen. Ich traute meinen Augen nicht: Im Garten der Freunde, dem trüben Grau zum Trotz, zeigte sich bei gerade einmal 5 Grad Celsius mitten im Winter eine einzelne, stolze, strahlende Rosenblüte an einem ansonsten kahlen Strauch und ließ den halben Garten (und vor allen Dingen meine Seele) aufblühen. Ganz natürlich und selbstbewusst streckte sie mir ihre vom Regen nassen Blütenblätter entgegen. Leuchtendes Leben inmitten einer scheinbar leblosen Natur. Sofort musste ich an Vianne denken: "Mama, der Baum blütet!" "Nein, mein Schatz, das bist du! Du bringst noch immer Farbe in das Grau..." Danke!


Freitag, 19. Januar 2018

Chancenlos... und doch selbstbestimmt

Echtzeit! 19.01.2018
Zitat Ada, im Januar 2017: "Wenn wir doch wenigstens mit Jesse und Vianne telefonieren könnten...so wie wir beide gerade."

 

Sie sind faszinierend und erschreckend schön. Wie kann etwas derart Schreckliches nur so schön aussehen - strahlenförmig sind sie um ein zentral gelegenes Gefäß angeordnet (sogenannte Pseudorosetten), rosa schimmern sie unter dem Mikroskop. Die Tumorzellen des Anaplastischen Ependymoms zeigen sich von ihrer schönsten und zugleich zerstörerischten Seite. Irgendwie war mir klar, dass sich Vianne nicht mit einer simpel aufgebauten, unspektakulären Krebszelle abgeben würde - es musste schon ein ausgebuffter, willensstarker und besonderer Gegner sein... ihr ebenbürtig - und sie hatte den gemeinsten und hinterlistigten aller Gener in sich, der mittlerweile eine eigene Erwähnung in der Fachliteratur findet: supratentorielles Ependymom mit  C11orf95-RELA-Fusion, wodurch der NF-kappaB Signalweg aktiviert ist, der wiederum zu einer Überaktivierung des shh-Signalwegs beiträgt (Sonic Hedgehog Signalweg= aktiv in der Embryonalphase und wichtig in der Regulation der Zellteilung). Vianne hatte als letzten Einzelheilversuch das Präparat Vismodegib (Erivedge) bekommen, welches diesen Signalweg hemmen sollte. Doch es war zu spät... Und ihre Tumorzellen haben noch auf andere Weise einen Freifahrtschein gehabt. Wir mussten an so vielen Fronten kämpfen ... Denn nicht genug mit der RELA-Fusion. Hinzu kam in Viannes Fall eine homozygote Deletion von CDKN2A (CDKN2A =Tumorsuppressor: kontrolliert den Zellzyklus und die Teilungsrate, verhindert bei geschädigten Zellen die Teilung oder veranlasst die Zellen zur Apoptose=Zelltod). Als Deletion (lat.: delere = auslöschen/vernichten) bezeichnet man in der Genetik den Verlust eines DNA-Abschnitts. Die Folge: die Bildung von Proteinen ist gestört. Proteine die dafür benötigt werden, den Signalweg zu regulieren und abzuschalten, wenn nicht mehr benötigt. Homozygote Deletion bedeutet die Löschung auf beiden gleichen Abschnitten. Bei Vianne wurde also der Tumorsuppressor komplett ausgeschaltet. No chance anymore. Hochrisiko-Ependymom mit zahlreichen chromosomalen Verlusten (Chromosom=aufgewickelter Genfaden). Ich bin kein Arzt, (verdammt, hätte ich doch nur Medizin studiert), deshalb ist alles, was hier steht, nur aus meinem laienhaften Verständnis der wissenschaftlichen Dissertationen zu sehen, also unter Vorbehalt hinsichtlich der Richtigkeit der Aussagen. Ich weiß heute nur eines: Wir hatten - im Nachhinein betrachtet - beim heutigen Stand der Wissenschaft und Medizin - nie eine reale Chance gehabt, die Erkrankung zu besiegen, auch wenn wir uns die Hoffnung auf Heilung/Stillstand nie haben nehmen lassen. Aber letztendlich waren wir chancenlos. Chancenlos... und doch selbstbestimmt. Denn wir konnten dazu beitragen, dass Vianne - trotz agressivem Hirntumor - eine lebenswerte Zeit hatte. Hin und wieder habe ich mit mir gehadert, ob wir die vorgeschobene Chemotherapie vor Bestrahlung besser gelassen hätten. Damals war sie im Protokoll vorgesehen, heute nicht mehr bei erreichter R0-Resektion (komplette Tumorentfernung, wie bei Vianne), Bestrahlung mit Protonen kann postoperativ direkt erfolgen, auch schon bei Kindern <4 Jahren. Aber auch wenn wir uns gegen die Chemo entschieden hätten: es hätte ihren Tod nicht verhindert. Vielleicht hätte es ihr und uns mehr Lebensqualität gegeben, vielleicht hätte es aber auch zu einem früheren Aufflammen des Tumors geführt, vielleicht wäre das Rezidiv später gekommen, weil ihr Körper ohne Chemo widerstandsfähiger gewesen wäre. Keine Ahnung - alles rein spekulativ. Ich weiß nur, dass sie mir fehlt. Ihr Schnulli riecht noch immer nach Vanille und hin und wieder, in einer ruhigen, sehnsuchtsvollen Minute, schnuppere ich daran. Warum er nach Vanille riecht? Weil sie in ihren letzten Wochen vorzugsweise Demeter Vanille Joghurt gefuttert hat und jedesmal anschließend ebendieser Schnulli in ihren Mund wanderte. Es ist schon komisch, an was ich mich festhalte - oder in diesem Fall besser "festrieche". Letzte Woche habe ich das erste Mal nach ihrem Tod wieder diesen Yoghurt aus dem Bioladen gekauft - nach zweieinhalb Jahren! - und bin daraufhin auf der Rückfahrt in Tränen ausgebrochen. Zuhause haben sich Ada und Luke gleich darüber hergemacht, denn sie mögen ihn ebenfalls sehr. Ich habe zaghaft gekostet und war ganz nah bei ihr. Er schmeckte einfach nach Vianne.
Das Weihnachtsfest verlief erstaunlich fröhlich: am 24. trafen wir uns wieder wie in den letzten zwei Jahren zuvor - seit Viannes Tod - mit lieben Freunden zur Matsch-Wanderung mit Picknick, Glühwein und Kinderpunsch und anschließendem gemeinsamen Mittagessen. Am Nachmittag schauten wir uns Adas Auftritt in einem Weihnachts-Mini-Musical an. Danach besuchten wir Jesse und Vianne, die Stimmung war irgendwie gelöst, wir kicherten gemeinsam auf dem Friedhof  und legten unsere kleinen Überraschungen ab, bevor es zur Bescherung und zum Enteessen im engsten Familienkreis nach Hause ging. Wir schlemmten, bis wir beinahe platzten und spielten anschließend Montagsmaler. Luke und ich standen dieses Mal im Finale. Am ersten Weihnachtsfeiertag kamen Andi und Ralf zu Besuch und wir verlebten einen gemütlichen, entspannten Tag. 
Zwei Tage später ging es nachts in den Skiurlaub in die Schweiz, nach Grächen, in ein uriges Chalet mit lieben Freunden. 
 
Für uns ganz untypisch schliefen wir jeden Morgen ausgiebig aus, bevor wir noch ausgiebiger frühstückten, so dass wir meistens erst ab frühestens 11 Uhr auf den Brettern/Boards standen. Wir hatten Sonne, Schneefall, Orkanböen - von allem etwas. Zeit und Muße, Geselligkeit und Besinnung, Sport und Faulenzen im Angesicht der beeindruckenden gewaltigen Viertausender rund um uns herum standen im Vordergrund dieses Urlaubs - es tat einfach nur gut. 
 
Mit Uli und Kilian verbrachten wir lustige Doppelkopf-Abende, die Mädels spielten mit den großen Jungs zu unser aller Belustigung "Pferdequartett", Luke und Darius zeichneten, zockten und machten all die Dinge, die Dreizehnjährige eben gerne machen. Wir verlebten gemütliche Abende auf der Hütte und lustige Zeiten im Schnee. Wir schlugen uns die Bäuche mit leckerstem Racelette-Käse voll.

 

Am vollmondhellen sternenklaren Silvesterabend warfen wir Knaller mit unseren Wünschen bepackt in den Schnee. Immer wieder wanderte mein Blick gen Himmel in der Hoffnung, irgendeinen kleinen Wink von Vianne und Jesse zu erhaschen. 


Wir verlebten unbeschwerte, leichte und harmonische Tage - erst auf der Rückfahrt nach Hause streifte mich der Schmerz. Die Narben sind so tief, so sichtbar, an manchen Tagen schmerzen sie mehr, an manchen weniger - bei uns allen. Anfang Januar waren wir abends ohne die Kinder auf einer Geburtstagsfeier bei lieben Freunden in Bochum. Ada rief mich mehrmals am Abend an und sagte mir beim Zubettgehen durchs Telefon, dass sie mich so sehr vermisse und fragte, wann ich denn nach Hause käme. Ich sagte ihr: "Ich bin da, auch wenn ich nicht da bin. Du kannst mich so oft anrufen wie du möchtest. Sobald ich zuhause bin, gebe ich dir einen dicken Kuss." Ada wurde ganz ruhig und hauchte dann ins Telefon: "Wenn wir doch wenigstens mit Jesse und Vianne telefonieren könnten... so wie wir beide gerade."" Ich sagte ihr, dass sie das könne: Über ihr Herz. Danach schlief sie ein. 
Ich brauche weiterhin Zeit mit mir, auch wenn mir diese Zeit dann mit den mich umgebenden lebenden Herzensmenschen fehlt. Aber es muss sein, um diese Kälte, gepaart mit erbarmungsloser Wut in mir in Schach zu halten. Mein Blick ist auf die Welt der Lebenden gerichtet, auf das Hier und Jetzt - mit Luke und Ada und Micha - aber häufig zieht es mich in die Vergangenheit, zu verlockend sind die Bilder von uns sechs aus glücklichen Zeiten, abgrundtief schmerzhaft und präsent, als wäre es erst gestern gewesen. Und andererseits sind da die Bilder aus den schlimmen Tagen des Abschiednehmens und des Schmerzes, aus deren Fängen ich mich aber auch nicht befreien kann, befreien möchte. Ich brauche weiterhin Zeit mit mir...