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Samstag, 23. November 2019

"Dir will ich alles schenken..."

Wenn ich Vianne eine Stadt zuordnen müsste, würde ich ohne zu zögern Paris wählen. 

Sie wollte so gerne noch kurz vor ihrem Tod dorthin reisen, aber wir haben es nicht mehr geschafft. Die Zeit - sie ist uns einfach davongerannt und hat Viannes letzte Kraftreserven mit sich genommen, obwohl sie doch über solch eine unglaubliche Energie verfügt hat - nur eben nicht grenzenlos. Heute schmerzt mich der Gedanke, dass sich Vianne und Paris nie begegnen durften. Warum haben wir nicht alles daran gesetzt, ihr diesen Wunsch zu erfüllen??? Die beiden hätten sich auf Anhieb gemocht, hätten sich, um sich nicht die Blöße zu geben, kurz mürrisch gemustert und taktiert und sich dann für immer unzertrennbar verwoben. Da bin ich mir seltsamerweise absolut sicher.

Vianne und Paris sind für mich in vielen Aspekten deckungsgleich. Paris ist elegant und patzig-arrogant in einem. Es hat, trotz all seiner Präsenz und Popularität, so wunderbar verborgene, verwunschene Ecken, die sich nicht jedem auf Anhieb offenbaren. 

Paris verzaubert, ebenso wie Vianne verzaubert hat, ohne jemals das Bedürfnis gehabt zu haben. 


"Eine seichte Berührung von dir, 
zart wie ein Flügelschlag, 
ein Blick, ein Wort, ein Lächeln - 
und du hast die Menschen berührt, 
ganz tief in ihrem Innersten." 

Paris und Vianne berühren beide. 


Paris ist lebendig-bunt, verrückt, pulsierend. Paris ist leise. Es lässt das Herz vor Wonne hüpfen und gleichzeitig wehmütig sehnsuchtsvoll pochen mit einer Prise Melancholie. Paris ist eine alte Seele. Und Paris ist renitent-modern. 

Paris wird sich hoffentlich nicht irgendwann selbst auffressen. Die äußeren Arrondissements strecken ihre schmutigen Tentakel ins Zentrum vor, um äußerst brachial auf sich und ihre vielfältigen, von der Politik lange bewusst übersehenen Probleme aufmerksam zu machen, ähnlich wie sich Viannes Tumorzellen - ein Teil ihrer Selbst -  ins pulsierende Zentrum vorgefressen und eine Spur der Verwüstung hinterlassen haben - und letztendlich zur vollständigen Zerstörung geführt haben. Ich hoffe von Herzen, dass Paris nicht das gleiche Schicksal erwartet... das rechtzeitig ein Heilmittel gefunden wird.
Vor wenigen Wochen sind Micha und ich für ein Wochenende zur Geburtstagsfeier meiner lieben Uli nach Paris gefahren, direkt ins Herz, ins quartier Marais. Der Himmel so blau, die Seine träge vor sich hinfließend, während das Leben in den Straßen pulsierte. Mein Herz hüpfte bereits bei der Anfahrt auf die Bastille und ich meinte zu Micha, dass wir am besten den ganzen Tag und die Nacht "durchmachen", um keine einzige Sekunde von Paris zu verpassen. 

Erst um 5 Uhr morgens, nachdem wir das quartier ausreichend erkundet und erspürt hatten, intensiv gefeiert und uns zum Abschluss mit liebenswert-lustigen Menschen singend und tanzend Richtung Hotel bewegt hatten, konnte ich müde-zufrieden aufs Kissen sinken. Ich hatte Paris in mich aufgesogen - hatte es für Vianne eingeatmet. Ich sah sie in ihrem schicken Mantel vor dem Hotel de Ville herhüpfen, während sie mich verschmitzt angrinst und vertraut ihre kleine Hand in meine schmiegt. Was für tiefe Sehnsüchte Paris in mir weckt... Jedes Mal macht die Stadt etwas mit mir. An diesem Wochenende hat sie sich Vianne und mir von ihrer schönsten Seite gezeigt. 

"Manchmal ist es so, 
als ob das Leben 
einen seiner Tage herausgriffe
und sagte: 'Dir will ich alles schenken!
Du sollst ein rosenroter Tag werden,
der im Gedächtnis leuchtet, 
wenn alle anderen vergessen sind.' " 
(Astrid Lindgren)


Früher habe ich Paris häufiger besucht, einmal sogar über mehrere Wochen. Ich weiß gar nicht, was mich nach der Geburt der Kinder davon abgehalten hat, Paris aufzusuchen? Die Liebe war ungebrochen vorhanden, aber irgendwie geriet die vertraute Stadt zwischenzeitlich auf das Abstellgleis. "Wir haben alle Zeit der Welt, dich gemeinsam mit den Kindern zu besuchen." Welch trügerische Fehleinschätzung... Vianne wird Paris niemals kennenlernen. Deshalb habe ich dieses Wochenende für sie mitgelebt - pur, ausgiebig, mit offenem Herzen, verrückt, wild, besinnlich
Wir reisen weiter mit dir, Vianne....

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