Gesamtzahl der Seitenaufrufe

Donnerstag, 9. August 2018

Von Ir(r)land nach Irland

Echtzeit! 03.08.2018


Vor wenigen Tagen erst sind wir aus unserem Irland-Urlaub zurückgekehrt. Es ist unser dritter Sommerurlaub zu viert und noch immer buche ich gedanklich sechs Plätze im Flieger: Reihe 19 A-C und D-F... Ironischerweise blieb der Platz neben mir im eigentlich ausgebuchtem Flieger frei. Es war Viannes Platz (Jesse wäre wahrscheinlich eh nicht mehr mit uns in den Urlaub geflogen).

Irland war für mich persönlich in diesem Jahr genau die richtige Wahl. Das Land hat mich gleichzeitig belebt und betrübt, es weckte ganz unterschiedliche, ambivalente Gefühle in mir, von süßer Melancholie bis hin zu spritziger Lebendig- und Ursprünglichkeit, mal mystisch und wolkenverhangen, mal strahlend bunt, blühend mit 50 Nuancen von grün und blau...


Ich habe dieses ursprüngliche Land unter anderem ausgesucht, um MICH zu finden. Mich! Im Spannungsfeld zwischen Jesse und Vianne und unserem jetzigen Alltag als Total-Normalo-Duchschnittsfamilie: zwei Kinder - Junge und Mädchen, mit gepflegtem Reihenhaus, Familienkutsche (ich vermisse unseren Bulli), geregeltem Einkommen... Ich mag dieses Bild nicht. Ich will meine lustig-chaotisch, revolutionäre, lebendig-turbulente und laute Familie mit vier Kindern zurück. Ich bin verliebt in uns als Großfamilie mit Jesse, Luke, Ada und Vianne. Dieses Familienbild wurde mir gestohlen - einfach so. 
Irland musste sein. Irland war mein Rettungsring. Von Monat zu Monat schlug mein Herz lauter, drängender, um mir unmissverständlich zu verstehen zu geben, dass etwas ganz und gar nicht stimmt... Das ich ausbrenne. Vor Wut... vor Schmerz.... vor Richtungslosigkeit ... vor Sehnsucht und Verlangen. Ich musste die Notbremse ziehen, auch wenn es mich dabei fast zerrissen hat. Scheiß Schicksal (oder Bestimmung oder was auch immer)! Ich habe mir dich nicht ausgesucht. Deshalb fühle ich mich für mein Handeln auch nur begrenzt verantwortlich. Was erwartest du von mir? Ich kann nicht immer stark sein. NEIN! Lass mich winselnd am Boden liegen. Lass mich Dinge tun, die ich nie für möglich gehalten hätte. Du! Du hast es heraufbeschworen. Du hast es entfacht. Wie konntest du mir, wie konntest du uns so viel rauben? Mit solch einer Brutalität. Du hast mein Urvertrauen erschüttert. Vor Irland hast du mich in die Knie gezwungen, hast mir meinen Kampfgeist geraubt, hast unbängigen Zorn in mir geschürt und mein Herz teilamputiert. Wiederholt hat Vianne mich nachdenklich und betrübt schauend gefragt, warum gerade sie erkrankt sei.... um kurz darauf wieder kichernd durch die Küche zu hüpfen und uns mit ihrem breiten Zahnlückengrinsen anzustrahlen. Seltsam. Der Krebs hat sich ausgebreitet, und der kleine Körper macht trotzdem alle Entwicklungsschritte wie Längenwachstum und Zahnwechsel mit... Wie bizarr. Und dann diese Machtlosigkeit, ihren Tod nicht aufhalten zu können -  du Arsch! Ich habe mich einige Zeit nach ihrem Tod lebendiger gefühlt als heute. Auch das hast du mir genommen. Doch ich fordere es zurück. Pah! Du-kannst-mich-mal.. Ich hatte im ersten Jahr gefühlsmäßig höhere Amplituden - ins Bodenlose ebenso wie in luftige Höhen -  doch schon eine geraume Zeit vor Irland kam ich mir eher vor wie ein Flatliner - eine konstant-gleichmäßige Linie, ohne große Ausschläge - in keine Richtung. Ich trieb ziellos umher in einem Meer widerstreitender Gefühle. Alles schien (und scheint noch immer) so verwoben, verworren und ich wusste weder, was ich empfinde noch wie ich empfinde, noch wusste ich, was meinen Schmerz und meine unbändige Wut mehr beeinflusste und mich innerlich so blockierte und am Vorwärtskommen hinderte. Auf der einen Seite sitzt ständig ein kleines geschwätziges Männchen auf meiner Schulter und flüstert mir eindringlich ins Ohr: "Hey! Niemand weiß besser als du, dass dein Leben genau JETZT stattfindet. Du dumme Kuh: Lebe endlich!!! Mach schon, los, tick-tack...Hast du es noch immer nicht geschnallt? Oder willst du weiterhin als leere Hülle durchs Leben laufen?"  Gestern habe ich den Film "I kill giants" geschaut... und er sagt alles. Leben und Sterben gehören untrennbar zusammen. Auf der anderen Schulter sitzt auch ein kleines Männschen und  flüstert einschmeichelnd: "Hey, es ist doch soweit alles gut. So eine ruhige Linie ohne große emotionale Wellen gibt doch auch Sicherheit. Dümpele weiter. Was willst du eigentlich? Finde dich mit deinem jetzigen Leben  ab. Geh kein Risiko ein. Komm, wir beide wissen, dass du nicht mutig genug bist. Musst du auch nicht sein."
Ich war ausgebrannt und innerlich zerrissen. Ein Teil meiner Persönlichkeit fast verloschen. Ich habe nur noch eine Rolle gespielt. Ich habe mich im letzten Jahr gefühlstechnisch  so sehr diszipliniert und unterdrückt, das ich immer mehr Substanz und Selbstwert verloren habe. Es kostete mich immense Energien. Ich glaube, kaum jemand hat mein Verblassen wirklich wahrgenommen...  Sogar mein Selbstwertgefühl war (und ist noch immer etwas) im Eimer. Ich traute mir noch nicht einmal mehr zu, einen öffentlichen Blogeintrag zu schreiben, zweifelte auch hier.  Doch jetzt weiß ich wieder: Diese Zeilen sind für mich, für euch, die ihr alle so sehr teilgenommen habt und noch immer teilnehmt .. und am meisten für Vianne.
Ja, ich bin noch immer gehörig im Arsch, aber Hallo! Da wird auch immer ein Stück weit so bleiben. Ich habe jedwedes Recht dazu. Aber ich habe die Sanierungsmaßnahmen auch nicht gänzlich weggeschoben. Ich bin dabei, mich neu zu entdecken, uns als Familie neu zu entdecken, auch wenn es auf diesem Weg  schmerzliche Verluste gab. Ja, es ist wahr: wenn eine Tür zuschlägt, geht eine andere auf. Aber du musst bereit sein, sie zu durchschreiten. Denn wenn du dich nicht auf diese Option einlässt, steckst du fest. Irland war für mich solch eine Tür. Mein Unterbewusstsein wusste es bereits bei der Buchung vor geraumer Zeit. Irland hat mich geerdet. 

Von Ir(r)land nach Irland - 1. Wegstrecke
Gewaltige Gewitterwolken türmten sich vor unserem Abflug in Köln am Himmel. Kurz nach dem Start kamen wir in beeindruckende Turbulenzen und der Flieger schwappte von einem Luftloch ins nächste. Während sich ein Großteil der Passagiere krampfhaft an den Armlehnen festkrallte und scharf die Luft einsog, dachte ich nur trotzig: "Na ja, wenn wir jetzt abschmieren, dann ist es in Ordnung. Vielleicht sehe ich dann die beiden wieder...was soll's ....dieses verfi.... Schicksal kann mich mal - zumindest kann es mir danach nicht mehr wehtun." Die Abstinenz von Angst war gar nicht mal so übel... Aber keine Sorge...  es war nur eine momenthafte, egozentrische Scheiß-Egal-Einstellung. Vor Irland hatte ich - ganz wider meiner Natur - nämlich irgendwann aufgehört, an Wunder zu glauben...  Es gab eine Zeit, da habe ich versucht, all' meine positive Energie durch Imagination an Vianne abzugeben... und jedes Mal hat sie dabei die Augen geschlossen, wohlig  durchgeschnauft und sich entspannt hingekuschelt, während ihr Herzchen ruhig und gleichmäßig schlug. Sie hat dieses abendliche Ritual eingefordert. Wir sind gemeinsam mit Glitzer und Einhornhaar und Aufräumkommando gegen ihren "frechen Wicht" vorgegangen... Ich habe auf diese Kraft vertraut. Und Vianne auch, das weiß ich. Also muss es an mir gelegen haben.... bei mir selbst kann ich so viel Körperliches beeinflussen. Wenn ich Schluckauf habe, kann ich ihn allein durch Vorstellungskraft innerhalb kürzester Zeit wieder abstellen. Ich weiß, dass ich es kann, auch wenn es sich seltsam und skuril  anhört. Vianne hat mich so oft gelehrt, all die kleinen Wunder hinter den Dingen zu sehen... und doch habe ich in diesem Jahr langsam aber stetig den Glauben an so viele Dinge verloren... Mein Status in 2018: Es gibt keine Wunder, es gibt keine Magie. Es gibt nur knallharte, bittere Realität und weder Sinn noch Unsinn hinter gewissen Geschehnissen. Ich zehrte lediglich von den Erinnerungen, während sie mich verzehren ...bis Irland... Ich maße mir nicht an, Dinge zu begreifen. Aber ich fühle Dinge, ich fühle dich, Vianne! Ich fühle Liebe in seiner reinsten Form, pur und glasklar... Ich will dich zurück...

Dublin - und meine Beine stehen nicht still - 2. Wegstrecke
Oh du wunderbar, lebendiges Dublin, in dem alle Einheimischen bei rot über die Fußgängerampel laufen (irgendwann habe ich mich mit Ada angepasst und mir damit einen dicken Rüffel von Micha eingefangen) und sich die Busfahrer sich auf so liebenswert-trockene Art über mich amüsieren. Nachdem wir den Flughafen verlassen hatten suchten wir den Bus Richtung City. Da wir uns nicht sicher waren, ob der vor uns wartende Bus zur O'Connell Street fuhr, fragte ich kurzerhand nach. Leider war mein Hirn noch in 11000 Meter Höhe, und leicht abwesend fragte ich den freundlichen Busfahrer, ob der Bus an der Oxford Street halten würde. Der Busfahrer schaute mich ernst-überlegend  an, während seine Augen belustigt funkelten: "Oh, I think, Oxford Street is in London."  Einen Moment muss ich ihn wohl ziemlich perplex angeschaut haben, bis bei mir der Groschen fiel, was für einen Stuss ich gerade losgelassen habe. Dann stotterte ich: Argh, sorry, I mean O'Connell Street. Der Busfahrer lachte und bejahte, während ich mich gespielt erschrocken zu Micha umdrehte und laut sagte: Oh Shit, this is Ireland, we have taken the wrong flight." Beim Aussteigen konnte es sich der Busfahrer nicht verkneifen zu sagen: "Here we are:  Oxford Street", woraufhin alle Beteiligten breit grinsen mussten. Ich liebe diese Art von Humor!

In unserem Backpacker-Hotel direkt um die Ecke von Temple Bar mit Hinterhofblick und Backsteinkamin haben wir uns sauwohl gefühlt. Wir hatten von der netten Rezeptionistin einen guten Tipp für einen urigen Pub bekommen und sind nach dem Besuch der Old Library (Ich LIEBE Bücher ... so prall gefüllt mit Wissen und Worten, Ereignissen, Phantasie, Freiheit, Unabhängigkeit und Gefühlen)

und dem Besuch des Wachsfiguren-Museums, wo wir persönlich ziemlich viel Spaß hatten 😉...




mit Guinness, Irish Stew, Live Musik und flottem irischen Stepptanz in den Abend gestartet. Ich liebe die irische Musik, sie ist so leicht, dass es einem in den Beinen juckt und man am liebsten aufspringen und und sogleich mittanzen möchte - auch wenn ich mir dabei sicherlich die Beine verknotet hätte. Gleichzeitig benetzt mich die irische Volksmusik mit einen feinen Sprühregen  bittersüßer Melancholie, ohne mich traurig zu machen.


Etliche Stunden später machten wir uns über die "Halfpenny Bridge" zurück auf den Weg in unser  Hostel ... beschwingt und müde und voller vielfältiger Eindrücke von dieser pulsierenden, liebenswerten Stadt fiel ich in unserem Vierbett-Zimmer müde ins Etagenbett - ich durfte zum Glück unten schlafen. Ich fühlte mich vom ersten Moment an, seit ich Irland betreten hatte, mit diesem Land und seinen Menschen verbunden...

 
Ich liebe die kleinen und großen Dinge, die in einem fremden Land anders sind: der Linksverkehr, das Gälische, die gesprächig-interessierten Landsleute, die Schornsteine, die Gezeiten, Bier und Cider...







Fortsetzung folgt...

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen